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Patrick Modiano besucht Problemschule in Stockholm: Nobel in Rinkeby

Ein Migrationsghetto in Stockholm, eine Klasse mit Problemschülern und der Literaturpreisträger 2014: Einen Tag nach der Verleihung besucht Patrick Modiano die 8c – für alle ein hochemotionales Erlebnis. Unsere Schweden-Korrespondentin war dabei.

Patrick Modiano kämpft mit den Tränen – und mit den Worten. Ihm, dem Literaturnobelpreisträger 2014, verschlägt es in der Bibliothek des Stockholmer Vorortes die Sprache. Dort hat ihn an diesem Freitagvormittag gerade die Klasse 8c der Rinkebyschule auf ihre Art geehrt. „Ich bin so gerührt. Das ist einer der emotionalsten Momente meines Lebens“, sagt der Franzose. In der ersten Reihe hat seine Frau Yvonne Tränen in den Augen, Tochter Marie weint, Tochter Zina auch.

Patrick Modiano besucht einen Stadtteil, in dem 90 Prozent der Einwohner einen Migrationshintergrund haben

Um 10.30 Uhr war Modiano im schwarzen Auto der Schwedischen Akademie auf dem Platz vor „Folkets Hus“, dem Haus des Volkes, in Rinkeby vorgefahren. Rinkeby ist in Schweden der Inbegriff eines Migrantenghettos, Beispiel für eine segregierende Wohnungspolitik. 15 000 Menschen wohnen dort. Mehr als 90 Prozent haben Migrationshintergrund.

Kübra Erdogan und Zekeriye Izgi sind zwar in Schweden geboren, zu Hause sprechen sie aber Türkisch. Heute ist es ihre Aufgabe, den Nobelpreisträger zu empfangen. Kübra hat einen Flitterkranz im Haar, Zekerizye eine rote Nikolausmütze auf dem Kopf. Unerlässliche Utensilien an diesem Tag, an dem Schulen in ganz Schweden das Lichterfest der Heiligen Lucia feiern. Die beiden führen die Modianos in den ersten Stock. Dort ist die städtische Bibliothek untergebracht. Es wartet ein kleines, aber feines Publikum. Kulturministerin Alice Bah Kunke ist da und auch Schriftsteller Per Wästberg, Mitglied der Schwedischen Akademie, also der Organisation, die alljährlich über die Vergabe des Nobelpreises für Literatur entscheidet.

Bengü und Habib, beide 14 Jahre alt, führen durch das Programm. Zunächst bekommen die Modianos einen klassisch schwedischen Luciazug zu sehen mit weiß gewandeten Kindern und einer Lucia mit Lichterkranz auf dem Kopf. Danach ist der Moment da, auf den die 18 Schüler der Klasse 8c vier Monate hingearbeitet haben. Sie präsentieren dem frisch gekürten Literaturnobelpreisträger ein Heft, das sie erstellt haben.

Der Literaturnobelpreisträger 2014 aus Frankreich hat ein besonderes Verhältnis zu Schweden

Sie haben sich mit Leben und Werk Modianos befasst, der ein besonderes Verhältnis zu ihrem Land hat. Seine Tochter ist mit einem Schweden verheiratet. Und: Die erste Sprache, in die sein erstes Buch übersetzt wurde, war Schwedisch. Vier der Schüler waren dabei, als der Ständige Sekretär der Schwedischen Akademie Peter Englund am 9. Oktober im traditionsreichen Börsenhaus der Stockholmer Altstadt den Namen des Nobelpreisträgers bekannt gab. Sahar war eine von ihnen. „Als der Name Patrick Modiano genannt wurde, da hatten wir keine Ahnung, wer das war. Aber jetzt wissen wir es!“, erzählt sie und PatrickModiano, der auf dem roten Plüschsessel in der ersten Reihe sitzt, lacht ganz wunderbar.

Die Schüler haben auch „Dora Bruder“ gelesen, Modianos Roman über ein jüdisches Mädchen, das im besetzten Paris verschwindet. Sie haben einen Comic über Alfred Nobel geschrieben, der als Kind arm war und deswegen gemobbt wurde. Er lernte viele Sprachen und wurde schließlich erfolgreich.

Parallelen zum Leben der Schüler sind durchaus beabsichtigt. „Ich möchte, dass diese Kinder ihre Mehrsprachigkeit als etwas Positives erleben, auch wenn das manchmal schwerfällt“, sagt Gunilla Lundgren. Die 72-jährige Schriftstellerin hat das Projekt „Nobel in Rinkeby“ 1988 ins Leben gerufen. „Ich möchte ihnen die Möglichkeit geben, sich als Stockholmer zu fühlen“, erklärt Lundgren, die sich darauf spezialisiert hat, Bücher nicht über Menschen, sondern mit ihnen zu schreiben. Dabei geht es ihr gar nicht darum, dass alle, die mit ihr arbeiten, später Schriftsteller oder Leseratten werden. „Für die Kinder ist es enorm, dass sie gesehen werden, dass sie Aufmerksamkeit bekommen. Auch wenn sie später als Pizzabäcker oder Taxifahrer arbeiten – diesen Tag, an dem ein Nobelpreisträger zu ihnen kam, werden sie nie vergessen.“

Auch Hertha Müller war schon an der Schule in Rinkeby

Und sie kamen bislang fast alle. Mario Vargas Llosa war hier, Hertha Müller, J.M.Coetzee. Jedes Jahr sind neue Achtklässler an der Reihe. Für Dario Fo schrieben sie eine Puppentheaterfarce, Wislawa Syzmborska erhielt Gedichte – und Patrick Modiano bekommt nun sein Heft.

Die Nobelbibliothek, städtische Bibliotheken und Schulen in Rinkeby unterstützen das Projekt finanziell, die Schwedische Akademie lädt die Kinder ein und engagierte Lehrer schuften. „Ich bin keine Entlastung für die Lehrer“, erklärt Gunilla Lundgren nüchtern. „Ich mache ihnen Extraarbeit.“

Diesmal ist Najet Abdennabi eine von ihnen. Die 55-Jährige kam einst aus Tunesien nach Schweden – der Liebe wegen. Seit vielen Jahren unterrichtet sie an der Rinkebyschule Französisch und Arabisch. Sie kennt die jetzige 8c gut. „Die Klasse hat überhaupt nicht funktioniert. Alle haben mir davon abgeraten, das Nobelprojekt mit dieser Klasse zu machen. Aber ich habe es gerade deswegen gemacht!“, sagt die energische Lehrerin. „Es war eine Herausforderung.“

Bei dem Projekt gehe es in hohem Maße auch um soziale Kompetenz

Bei dem Projekt gehe es in hohem Maße auch um soziale Kompetenz, betont Abdennabi. „Nehmen Sie doch allein schon das U-Bahn-Fahren! Manche Lehrer haben sich geweigert, mit den Kindern einen Ausflug zu machen.“ Sie hingegen seien auf den Spuren Alfred Nobels mehrmals in die Innenstadt gefahren. „Ich setze mich zu den Kindern und spreche mit ihnen über irgendwas, was sie interessiert, über Fußball, über Messi. Dann kommen sie gar nicht auf die Idee, Blödsinn zu machen.“ Bengü Erdal pflichtet ihrer Lehrerin bei. „Wir haben gelernt zusammenzuarbeiten. Früher waren wir echt fies zueinander. Jetzt geht’s!“

Als die Präsentation vorbei ist und Patrick Modiano mit seinen Tränen kämpft, da muss auch Najet Abdennabi ein wenig weinen. Mert strahlt – ohne Tränen. „War aufregend“, sagt der 14-Jährige. „Modiano scheint richtig nett zu sein.“ „Nur, Mann, ej“, sagt sein eher kurz gewachsener Kumpel Ahmed lachend, „der Typ ist echt viel zu lang.“ Patrick Modiano misst 1, 98 Meter.

Karin Häggmark

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