
© dpa/Keystone/Cyril Zingaro
Drama in den Schweizer Alpen: Experten halten Gefahr im Lötschental weiter für „sehr hoch“
Nach dem Gletscherabbruch fließt das aufgestaute Wasser ab, aber normalisiert hat sich die Lage im Lötschental noch längst nicht. Der Krisenstab ist beunruhigt. Neue Gerölllawinen seien möglich.
Stand:
Weiter keine Entwarnung im Katastrophengebiet in der Schweiz: Nach dem Gletscherabbruch im Lötschental im Kanton Wallis droht neue Gefahr. „Am Kleinen Nesthorn wird erneut eine sehr hohe Aktivität registriert“, teilt der Führungsstab mit. Es werde geschätzt, dass „noch immer mehrere Hunderttausend Kubikmeter Fels instabil“ seien. Die Gefahr im Bergsturzgebiet bleibe „sehr hoch“.
Weil das Gelände auf einer Höhe von mehr als 2500 Metern sehr steil ist, können sich bei weiteren Abbrüchen neue Gerölllawinen entwickeln, fürchten Experten.
Das Dorf Blatten wurde fast vollständig verschüttet
Am vergangenen Mittwoch passierte dort ein Jahrhundertereignis: Über Wochen waren Felsbrocken vom Kleinen Nesthorn auf den darunterliegenden Birschgletscher gestürzt. Unter der Last brach das Eis zusammen und donnerte mit Millionen Kubikmetern Fels, Eis und Geröll in die Tiefe. Das Dorf Blatten wurde fast vollständig verschüttet. Die rund 300 Einwohner waren vorher in Sicherheit gebracht worden. Von einem seit dem Bergsturz vermissten 64-jährigen Mann fehlt unterdessen weiterhin jede Spur.
Der rund zwei Kilometer lange Schuttberg, der auf dem Dorf liegt und das Flussbett der Lonza blockiert, ist nach wie vor instabil und gefährlich. „Der Schuttkegel kann momentan nicht betreten werden“, sagte Josianne Jaggi vom Führungsstab. Erkundungstrupps der Armee sind bereit, um zu prüfen, ob dort Aufräumarbeiten beginnen können, müssen aber abwarten.
Das gestaute Wasser der Lonza, von den Behörden „Blattensee“ getauft, läuft langsam ab. Dort wurden aus Hubschraubern rote Schwimmbarrieren platziert, um zu verhindern, dass Schwemmmaterial aus den zerstörten Häusern den Abfluss über und durch den Schuttkegel blockiert, wie Jaggi sagte.
Weiter unten im Tal füllt sich der Stausee bei Ferden mit dem durchdringenden Wasser der Lonza. Es führt viel Abrieb und Sand mit sich, der sich auch im Stausee ablagert. Von dort wird ständig Wasser abgelassen, das dann kontrolliert im Flussbett der Lonza Richtung Rhone fließt.
„Die Lonza scheint ihren Weg gefunden zu haben“, sagte der Gemeindepräsident von Blatten, Matthias Bellwald, der Agentur AFp zufolge. Der Pegelstand des hinter dem Schuttkegel aufgestauten Sees sei inzwischen ungefähr einen Meter niedriger als noch am Freitag, erklärte Raphaël Mayoraz, Chef der Dienststelle Naturgefahren des Kantons Wallis.
Das Staubecken darf höchstens zu Zweidritteln gefüllt sein, der Pegelstand lag am Sonntag darunter. „Damit bleibt die Rückhaltefunktion des Sees im Falle eines Murgangs erhalten“, so der Führungsstab. Ein Murgang entsteht, wenn Wassermassen Geröll und Schlamm wie eine Lawine in Bewegung setzen.
Allerdings bereitet die Wettervorhersage den Expertinnen und Experten Sorge. In den nächsten Tagen ist für mehrere Tage Regen vorhergesagt. MeteoSchweiz warnte vor erheblicher Gewittergefahr, mit möglichen Sturmböen. Dazu kommt die Eisschmelze auf den umliegenden Bergen, ebenso wie im Schuttkegel, der das Eis des abgebrochenen Birschgletschers enthält – das alles kann den Schuttkegel destabilisieren.
Der Klimawandel macht Bergstürze wie aktuell in der Schweiz und andere Gefahren wie Steinschlag und Felsstürze nach Ansicht eines Expertem häufiger. „Die Zunahme dieser alpinen Gefahren ist eine eindeutige Auswirkung des menschengemachten Klimawandels“, sagt Tobias Hipp vom Deutschen Alpenverein.
„Die Alpen sind durch die Erwärmung im Ungleichgewicht und werden instabil. Wir müssen davon ausgehen, dass diese Ereignisse weiter zunehmen.“
Beim Bergsturz – wie jetzt in der Schweiz – sind riesige Mengen Gestein unterwegs.
Tobias Hipp, Klimaexperte beim Deutschen Alpenverein
Grundsätzlich müsse man zwischen Bergsturz und Felssturz unterscheiden, erklärt er. „Beim Bergsturz – wie jetzt in der Schweiz – sind riesige Mengen Gestein unterwegs. Hier sieht man oft im Vorfeld schon Anzeichen wie kleinere Abbrüche, sodass die Region großflächig überwacht werden kann für eine rechtzeitige Frühwarnung. Das ist aber nicht immer der Fall, wie beispielsweise beim Bergsturz am Piz Cengalo im Jahr 2017 mit mehreren Toten.“
Für Bergsportler seien allerdings in der Regel Felsstürze und Steinschlag relevanter. „Dies sind klassische alpine Gefahren, die viel häufiger und flächendeckender vorkommen.“
Beides werde aber von ähnlichen Prozessen ausgelöst, die durch den Klimawandel begünstigt werden, sagte Hipp. „Einerseits erwärmen sich die Berge, wodurch der Permafrost im Inneren sie nicht mehr so gut zusammenhält. Auch der Rückgang der Gletscher spielt eine Rolle, weil die Gletscher einerseits nicht mehr als Stützen der benachbarten Felswände dienen, andererseits weil unter den Gletschern instabile Flächen frei werden, von denen Steinschlag oder Abrutschungen ausgehen können.“
Die infolge des Klimawandels steigenden Temperaturen lassen seit Jahrzehnten die Gletscher in den Alpen schrumpfen und machen sie weniger stabil. Allein in den Jahren 2022 und 2023 verloren Schweizer Gletscher zehn Prozent ihrer Masse – so viel wie im gesamten Zeitraum 1960 bis 1990.
Und oft kämen dann noch die zunehmenden Extremwetterereignisse wie Starkregen oder Hitzewellen als Auslöser hinzu. Am Ende spielten dann meist mehrere Faktoren oder Prozesse zusammen. (dpa, lem)
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: