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Lastenträger wie hier in Istanbul gibt es in der Türkei nicht mehr viele.

© Mustafa Ozer/AFP

Einmal hingeschaut: Was für eine Last!

Über den Niedergang einer Branche in der türkischen Wirtschaft und Parallelen im Staatsgebilde. Eine Kolumne.

Bis vor knapp fünfzig Jahren war der Beruf des Gepäckträgers ein gewöhnlicher Beruf in der Türkei. Ich rede nicht von Gepäckträgern, die an Bahnhöfen die Koffer tragen, sondern von denen, die auf Großmärkten schwere Gewichte auf ihren Rücken hin und her schleppten. Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Hamals, wie sie in Türkisch genannt werden, ein Teil der Infrastruktur der osmanischen Wirtschaft. Sie trugen die Waren auf die Pferdekarren, Barkassen und Schiffe. In der Stadt arbeiteten sie wie die heutigen City-Kuriere - mit wesentlich mehr Gewicht auf dem Rücken.

1908 erließ man eine Verordnung für die Hamals. Diese waren aus den gesunden und starken Männern auszusuchen. Andere hatten in dem Beruf nichts verloren. Die Preise waren nach Gewicht und Weg festgelegt. Wer mehr verlangte, durfte den Beruf nicht mehr ausüben. 1908 gab es an den sechs Zollabfertigungsstellen von Istanbul 1002 registrierte Gepäckträger. Sie hatten ihre Registriernummer gut sichtbar auf der Kleidung zu tragen. Die Industrialisierung brachte es mit sich, dass die Zahl der Hamals bis auf einige wenige dezimiert wurde.

Über die Jahrzehnte wurde der Begriff zum Schimpfwort

Und noch etwas ist passiert. Der Begriff „Hamal“ ist zu einem Schimpfwort geworden. „Du bist ja nur der Hamal von Ali!“ oder „Du bist ein Hamal!“, also einer, der fast auf einer Stufe mit einem Sklaven steht. „Vergeude deine Zeit nicht mit Hamal-Tätigkeiten!“ wird auch oft benutzt.

Ich kann mir an dieser Stelle nicht verkneifen, darauf hinzuweisen, dass bei Gesprächen unter den wohlgemerkt türkischen Geschäftsleuten auch der Türkei die Rolle eines Hamals zugesprochen wird. Klingt hart, ist aber die Wahrheit. Zumal die Türkei kaum Produkte mit Mehrwert produziert, ständig die neuesten Technologien aus dem Ausland kauft und nicht selber entwickelt und in der Ära Erdogans des Prächtigen eine Importnation par excellence geworden ist.

Die türkische Wirtschaft unserer Zeit ist auf eine Landmine getreten und darauf stehengeblieben. Niemand weiß, wie es weitergehen wird, wenn sich irgendjemand regt. Wo sind die Bomben- und Minenentschärfung-Teams? Gibt es sie überhaupt? Operieren sie inkognito, so dass niemand etwas von ihnen mitbekommt?

Im Türkischen sagt man, dass Schulden die Peitsche des Tapferen sind. Soll heißen, dass die Schulden, die man zurückzuzahlen gewillt ist, zu Höchstleistungen antreiben. Nur ist diese Peitsche in der Türkei so schwer geworden, dass keiner sie mehr hochheben kann.

Ahmet Refii Dener arbeitet als Türkei-Analyst. 2017 ist ARD, wie der Blogger (go2tr.de) genannt wird, nach Deutschland zurückgekehrt.

Ahmet Refii Dener

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