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Dass auch Frauen Kinder missbrauchen, galt lange als Tabu und bekommt nur zögerlich mehr Aufmerksamkeit durch Forschung und Öffentlichkeit.

© Serghei Turcanu/Getty Images/iStockphoto

Missbrauch von Kindern: Wenn Frauen zu Täterinnen werden

Auch Mütter, Pflegemütter, Au-Pair-Mädchen oder Nachbarinnen verüben sexualisierte Gewalt an Kindern – oder decken ihre Partner.

Von Caroline Fetscher

Oliver war sechs oder sieben. Die Mutter badete ihn und duschte ihn ab. Seinen Intimbereich wollte er gerade selber waschen, als die Mutter, Seife in der Hand, wie nebenbei erklärte: „Dein Schwänzchen gehört ganz allein der Mami!“ und den Sohn selber wusch. Dass ihr Tun und ihr Satz beängstigend auf Oliver wirkten, der inzwischen längst erwachsen ist, wird auch durch seine minutiöse Erinnerung belegt. Diese Augenblicke waren grell, er hat sie nie vergessen. Halb wütend, halb grinsend erzählte er später im Freundeskreis: „Das hat die wirklich geglaubt.“ Die Taten seiner Mutter waren keine schweren. Aber schwer genug für ihn.

Die explizite Aussage, aufgetaucht aus dem Unbewussten der Mutter, war jedenfalls eine Verifizierung des Unaussprechlichen: Eine Mutter missbraucht ihr Kind. Der Übergriff einer Frau auf den Körper eines Kindes attackiert dessen Vertrauen und physische Integrität ebenso, wie der Übergriff eines Mannes. Doch Frauen als Täterinnen sind ein Tabu. „Kinderschänder“ waren zunächst unbekannte Fremde, bis Väter als Täter in den Blick gerieten. Erst seit wenigen Jahren gilt das Interesse der Forschung auch den „female child sex offenders“ (FCSO). In der polizeilichen Kriminalstatistik rangieren solche Fälle auch in Deutschland im unteren einstelligen Bereich.

20 bis 30 Prozent sind Täterinnen

Aktuelle Forschung kommt zu anderen Ergebnissen. Das Team von Safiye Tozdan, Peer Briken und Arne Dekker am Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf etwa geht in einer Studie von 2019 davon aus, dass 20 bis 30 Prozent der sexualisierten Taten an Kindern von Frauen begangen werden.

Verwundern dürften diese bei Befragungen erhobenen Daten nicht. Schließlich sind überall, wo Missbrauch passiert, auch Frauen involviert, Mütter, Partnerinnen, Großmütter, Stiefmütter, weibliche Verwandte, Nachbarinnen. Direkt oder indirekt sind sie an Taten beteiligt, indem sie wegsehen, schweigen, vertuschen, Beihilfe leisten, Kinder manipulieren, mit profitieren oder selber initiativ sind. Olivers Mutter war eine enttäuschte Hausfrau, ihr Mann ein erfolgreicher Anwalt. Mit der Macht über das Kind täuschte sie sich Geltung vor, der sexualisierte Aspekt kann Lustabfall in der Ehe kompensiert haben.

Meist wurden die Grenzen der Grenzverletzenden einst selber überschritten, wurde in ihrer Kindheit die Unterscheidung zwischen Ich und Du nicht klar etabliert. Später wird das Kind mitunter als Teil des eigenen Körpers begriffen, „mit dem ich machen kann, was ich will“. Weibliche Taten können von Wiederholungszwang, Rache und Sadismus geprägt sein, auf Persönlichkeitsstörungen oder Narzissmus deuten, auf Selbstwert- oder Suchtprobleme. Begangen werden sie von schwach intelligenten wie von hoch raffinierten Täterinnen – und allem dazwischen, in allen Milieus.

Großes Dunkelfeld

Das große Dunkelfeld verdankt sich nicht allein der Scham der Opfer, die bei Täterinnen größer ist als bei Tätern, bei betroffenen Mädchen größer als bei Jungen. Frauen, die ihnen anvertraute Mädchen und Jungen missbrauchen, das konnte, durfte nicht wahr sein, da das Mutterbild religiös konnotiert oder säkular überhöht wird. Von der Marien-Ikone über die am Muttertag beschworene Mutti als „die Beste“ gilt weiblicher Instinkt, mütterliche Intuition als Garant eines von der Natur geschriebenen Programms.

Doch menschliche Mutterschaft ist Kultur, sie wird sozial erlernt, wie die französische Philosophin Elisabeth Badinter 1981 in ihrem Buch „Mutterliebe“ erklärt hat. Mutterliebe, so Badinter, ist ein Mythos. Menschen sind keine Tiere, weder Pflege noch Nestbau folgen genetisch fixiertem Ablauf. Wird Mutterliebe nicht erfahren und weitergegeben, und wird das Defizit nicht therapeutisch oder anderweitig aufgearbeitet, dann werden statt Mutterliebe Störungen weitergereicht, Traumata, Brüche, die zum Instrumentalisieren von Kindern führen können, bis hin zu sexualisierter Gewalt.

Jugendämter und Familiengerichte bauen aufgrund mangelnder Fortbildung gleichwohl meist weiter auf den Mythos Mutterliebe. Wieder und wieder werden Kinder zurückgereicht oder belassen bei Müttern, selbst wenn diese mit einem vorbestraften Pädokriminellen liiert sind. So geschah es im Staufener Fall. Die Richterin Eva Voßkuhle hatte im April 2017 einen Neunjährigen aus seiner Pflegefamilie zurück zur Mutter geschickt, und damit auch zu deren Partner, einem von derselben Richterin verurteilten Pädokriminellen. Die Auflage: Der Mann solle Abstand halten zum Kind. Doch das Paar verkaufte den Körper des Jungen via Internet als Sexobjekt. Es sei „eine Crux an diesem Fall, dass man die Mutter als Täterin nicht auf dem Schirm hatte“, bedauerte Stefan Bürgerlin, der mit dem Prozess betraute Freiburger Richter.

Frauen begehen Taten gemeinsam mit Partner

Auch im aktuellen Münsteraner Fall hatte niemand die beiden Frauen als Gefahrenquellen auf dem Radar, die in den Fall verstrickt scheinen: Die nun inhaftierte Mutter des Hauptverdächtigen, Carina V., und dessen Partnerin, Sabrina K.. Die Tätermutter, sagen Ermittler, soll dem Sohn wissentlich ihre Kleingartenlaube überlassen haben, die er zum Studio für Missbrauchsvideos mit Kindern umgerüstet hatte, samt Hightech-Überwachung innen und außen. Dort missbrauchte der 27-Jährige auch den zehnjährigen Sohn seiner Lebensgefährtin.

Deren Verhältnis zum Vorbestraften war dem Gericht seit Jahren bekannt. Der Pädokriminelle soll sich reuig und einsichtig gezeigt haben, die Kindsmutter aber jede Kooperation verweigert. Dennoch, so ein Sprecher des Amtsgerichts Münster, habe „Einvernehmen“ bestanden, „dass das Verfahren ohne Eingriffe in das Sorgerecht beendet werden kann“. Jetzt erst wurde der Junge in Obhut genommen. Was wusste, wollte seine Mutter? Und was wussten die Mütter der anderen, ebenfalls sexueller Gewalt ausgesetzten Kinder in Münster?

Frauen, die sexualisierte Gewalt gegen Kinder verüben, sind der Öffentlichkeit im Grunde nicht neu, sie hätten längst zumindest als weibliche Hälfte krimineller Paare auffallen können, denn nicht selten begehen Frauen Taten gemeinsam mit ihren Partnern, wie im Fall Staufen.

Unverhohlene Komplizenschaft

Gerade in den gravierenden, allerbrutalsten Fällen von Missbrauch und Misshandlung, die bisher ins Hellfeld drangen, waren oft Paare gemeinsam aktiv. In Belgien gab es Marc Dutroux und Michelle Martin, in Großbritannien Ian Brady und Myra Hindley, in Kalifornien Jonathan Allen und Ina Rogers sowie David und Louise Turpin. Die Paarstruktur macht es durch das Element unverhohlener Komplizenschaft leichter, einander in der Gesetzlosigkeit zu bestätigen und zu decken.

Irgendein Element weiblicher Komplizenschaft, soviel scheint gewiss, lässt sich in jedem Fall von sexualisierter Gewalt gegen Kinder finden. Die Tragik der am häufigsten betroffenen Gruppe der Kinder unter zehn ist, dass sie gerade den Schutz der Mutter bräuchten, die sie indirekt oder direkt verrät.

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