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Die Zeit der Ausgangsbeschränkungen nutzte die isländische Designerin Ýrúrarí zum Stricken. Manche ihrer Masken zeigen einen lächelnden Mund mit Zahnspange, aus anderen wuchern mehrere Zungen.

© promo

Mode aus Island: Pragmatischer Irrsinn

Sie stricken Masken mit Zungen und kochen Desinfektionsmittel aus aussortierten Früchten. Beim Festival Design March in Reykjavík zeigten isländische Designer, wie verspielt und nachhaltig sie mit der Krise umgehen. Islands First Lady geht mit gutem Beispiel voran und kauft ihre Kleidung in Rotes-Kreuz-Läden.

Der Fang des Tages baumelt an einem Nylonfaden von der Decke. In der Plastikflasche mit den kreuz und quer drapierten Bananenstickern befindet sich Desinfektionsmittel, das der Isländer Björn Steinar Blumenstein mit einem Gin-Produzenten entwickelt hat. Im Keller seines Studios hat der 29-jährige Produktdesigner eine provisorischen Destille stehen. Der „Catch of the Day“ besteht je nach Fangtag aus Bananen, Zitronen oder Beeren, die er fermentiert und anschließend brennt. Es sind Reste von lokalen Importeuren, die sonst weggeworfen würden.

In diesen Tagen findet in Reykjavík zum 12. Mal der Design March statt. Das Festival wurde im Corona-Jahr von März auf Ende Juni verschoben. Normalerweise tummeln sich während des fünftägigen Events auch internationale Designer in der isländischen Hauptstadt, präsentieren ihre Arbeiten und erklären in vollen Sälen ihre Philosophie. In diesem Jahr ist der Design March ein isländisches Happening mit teilweise digitalen Talks.

Der Designer spricht mit der Premierministerin über sein antikapitalistischen Designstrategien

Björn Steinars „Catch of the Day“ war 2018 als Wodka entworfen, um ein Zeichen gegen die Lebensmittelverschwendung zu setzen. In diesem Jahr fertigte er aus 250 Kilo aussortierten Früchten eine spezielle „Covid-19-Edition“ als Desinfektionsmittel, das nun am Eingang aller Festivalorte bereitsteht. „Bei uns ist es ein spaßiges Projekt, andernorts kann es lebenswichtig sein“, sagt er. Er bekam sogar Nachfragen aus Indien.

Steinar bezeichnet seine Designmethode als antikapitalistisch. Er hinterfragt, welche neuen Produkte man in unserer Überflussgesellschaft wirklich noch braucht. Darüber spricht der hochgewachsene Isländer in seiner Arbeitslatzhose und den wild hochgesteckten Haaren eine halbe Stunde später mit einer zierlichen Frau, die sich nur als Katrín vorstellt.

Der Produktionsdesigner Björn Steinar stellt sein Desinfektionsmittel „Catch of the Day“ aus Fruchtresten her.
Der Produktionsdesigner Björn Steinar stellt sein Desinfektionsmittel „Catch of the Day“ aus Fruchtresten her.

© promo

Katrín Jakobsdóttir ist die Premierministerin Islands, doch wie in ihrer Heimat mit rund 360 000 Einwohnern üblich, duzen sich alle. Steinar zeigt ihr das Desinfektionsmittel, seine Sportmedaillen aus recyceltem Plastikmüll und nachhaltige Holzmöbel. Die Regierungschefin schätzt den kreativen Ansatz. „Bisher konnten wir die Krise gut meistern“, sagt sie. Zu diesem Zeitpunkt gibt es zwölf aktive Corona-Patienten und 100 Menschen in Quarantäne, doch sie weiß, dass sich das schnell ändern kann. Also testen die Isländer viel und bitten die mittlerweile wieder einreisenden Touristen, die Corona-App herunterzuladen. Nach zehn Minuten erinnert Katríns Assistentin sie an den nächsten Termin. 45 Minuten später sieht man sie mit dem Chef-Epidemiologen live im Fernsehen auf einer Pressekonferenz zur aktuellen Lage .

Hildur Yeoman hat schon Bühnenoutfits für Taylor Swift und Björk entworfen

„Hier dreht sich alles ums Umdenken“, sagt Halla Helgadóttir, die geschäftsführende Direktorin des Icelandic Design Center, das den Design March ausrichtet. Das Motto in diesem Jahr lautet „New World – New Ways“, die wichtigsten Themen sind Nachhaltigkeit, Wiederverwertung und Umwidmung. Die Festivalmacher wollen positive Zeichen setzen.

Island bietet dafür eine ideale Spielwiese. Besonders die Modebranche zeichnet sich seit vielen Jahren durch experimentelle Kreationen aus. Unweit von Björn Steinars Studio liegen an der Flaniermeile Laugavegur und ihren Nebenstraßen rund 30 Boutiquen einheimischer Designer und Designerinnen. Eine von ihnen ist Hildur Yeoman. Die 36-jährige hat auch Bühnenoutfits für Stars wie Taylor Swift und Björk angefertigt. Ihr Markenzeichen sind farbenfrohen Drucke, die aktuelle Sommerkollektion heißt „Cheer up“. Sie macht auffällige, figurbetonte Mode, die in Island viel getragen wird.

Hildur Yeomans Markenzeichen sind sehr weibliche figurbetonte Entwürfe.
Hildur Yeomans Markenzeichen sind sehr weibliche figurbetonte Entwürfe.

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Auf dem Weg zu ihrem Geschäft läuft man auf der Straße über einen riesigen Regenbogen. Er soll ein Zeichen der Toleranz und Solidarität mit der LGBTI-Community sein. Auch das Präsidentenpaar zeigt bei Staatsbesuchen regelmäßig Flagge, so trugen beide beim Treffen mit US-Vizepräsident Mike Pence und dessen Frau regenbogenfarbige Armbänder. Die First Lady Islands, Eliza Reid, ist gebürtige Kanadierin und lebt seit 2003 auf der Insel. Das Motto der Wiederverwertung hat sie seit Jahren verinnerlicht, etliche ihrer Outfits hat sie in Reykjavíker Rotes-Kreuz-Geschäften gekauft. Die Managerin der modern gestalteten Läden kennt Elizas Geschmack inzwischen so gut, dass sie neue, passende Ware für sie zurücklegt.

[lva Gehrmann ist freie Journalistin und Autorin des Buchs „Alles ganz Isi – Isländische Lebenskunst für Anfänger und Fortgeschrittene“ (dtv, Taschenbuch-Neuauflage, 11,90 Euro)]

Nicht das gesamte Second-Hand-Sortiment findet neue Besitzer, manches ist zum Beispiel durch Flecken unverkäuflich. Wie leicht man Kleidung wie diese zu neuem Leben erwecken kann, zeigt die Designerin Ýr Jóhannsdóttir mit ihrer Kollektion „Peysa með öllu“. Der Name dient als Wortspiel aus „Hot Dog mit allem“ und den in Island beliebten Wollpullis mit Zackenmuster.

Die gestrickten Masken lenkten Ýrúrarí während des Lockdowns ab.

„Wir haben mehr als genug Pullover auf der Welt. Warum immer neue machen, wenn wir unsere alten mit einfachen Dekorationen auffrischen können?“, fragt die 27-Jährige, deren Künstlername Ýrúrarí ist. Sie liebt es drastisch. Flecken versteckt sie unter knallgrünen, gestrickten Brüsten oder schreibt in Ketchupfarben „Pylsa“ drauf. Ihre Unikate wurden in einer Rotes-Kreuz-Filiale ausgestellt, am Ende des Festivals machten Models eine Performance in den bunten Kreationen, sie tanzten durch die Innenstadt und zum Flohmarkt.

Noch wilder sind Ýrúrarís gestrickte Gesichtsmasken. Manche zeigen einen lächelnden Mund mit Zahnspange, aus anderen wuchern mehrere Zungen heraus. „Zungen sind für mich mal ungezogen und mal lustig“, sagt Ýr Jóhannsdóttir in einem Videocall. Die Masken waren für sie spontane Objekte, die sie während des Lockdowns ablenkten. Ihre tragbaren Skulpturen sind nicht sicher, aber man könne sie natürlich über den klassischen Masken tragen. Passend zum diesjährigen Festivalmotto geht die Designerin in dieser neuen Welt einen neuen Weg: „Ich hoffe, dass wir nachhaltiger leben, aneinander denken und freundlicher zueinander sind. Aber wenn wir alle gleich aussehen, verändert sich nichts.“

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