
© Imago Images
Lage queerer Menschen in Europa: „Hoffnung hinter der Nebelwand der Anti-LGBTI-Rhetorik“
Resümee der NGO „ILGA Europe": 2021 als ein Jahr mit vielen Tiefpunkten aber auch einigen Lichtblicken für die LGBTI-Community
Stand:
Das vergangene Jahr ist kein leichtes Jahr für die europäische LGBTI-Community gewesen, wie aus dem im Februar veröffentlichten Jahresbericht der Nichtregierungsorganisation „ILGA Europe“ hervorgeht.
„In jedem Land steht das Leben von Menschen auf dem Spiel, weil LGBTI-Personen zu politischen Sündenbocken gemacht werden“, sagte ILGA-Europe-Chefin Evelyne Paradis. „Die psychische Gesundheit, das Sicherheitsgefühl dieser Menschen und der Zugang zu Arbeit wird dadurch negativ beeinflusst.“
Eine Welle der Gewalt und Anti-LGBTI-Rhetorik habe sich über Europa ausgebreitet
Um nur einige Beispiele zu nennen: Ungarn führte im Juni ein Gesetz ein, das die "Darstellung und Förderung einer vom Geburtsgeschlecht abweichenden Geschlechtsidentität, die Änderung des Geschlechts und Homosexualität" für Personen unter 18 Jahren verbietet - nach Aussage von ILGA Europe ein Tiefpunkt des letzten Jahres.
In Rumänien wurde der Zugang zu Hormonersatztherapien im Juli stark eingeschränkt und der Besitz, Handel und Kauf von Testosteron unter Strafe gestellt. Außerdem kann die Einfuhr von Testosteron aus dem Ausland mit einer fünfstellige Geldstrafe und bis zu sieben Jahre Gefängnis bestraft werden.
Und die britische Ministerin für Frauen und Gleichstellung, Liz Truss, ermutigte die Regierung, sich aus dem Diversity Champions-Programm zurückzuziehen, das einen sicheren und integrativen Arbeitsplatz für LGBTI-Mitarbeiter*innen fördert. Eine Reihe von Institutionen, wie das Justizministerium und die Gleichstellungs- und Menschenrechtskommission, aber auch Medienhäuser wie BBC kamen dem nach.
[Dieser Text ist ein Auszug aus dem Queerspiegel-Newsletter des Tagesspiegel, der zweimal im Monat erscheint - hier geht es zur Anmeldung.]´
Der Jahresbericht zeigt eine Momentaufnahme dessen, was im Laufe des Jahres auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene geschehen ist, und dokumentiert Fortschritte und Trends in Bezug auf die Menschenrechtssituation von LGBTI-Menschen dokumentiert.
Von einer „Welle der Gewalt“, die sich 2021 durch ganz Europa ausgebreitet hat, ist die Rede, ausgelöst durch eine zunehmende queerfeindliche Rhetorik von Politiker*innen und führenden Persönlichkeiten.
Politiker*innen, Wissenschaftler*innen, Medien und Akteure der Zivilgesellschaft stünden mehr denn je in der Verantwortung, dem entgegenzuwirken. Und viele Gerichte und Institutionen wären dieser Verantwortung im vergangenen Jahr auch nachgekommen, wie es in der Pressemeldung des Berichts heißt. „Hinter der Nebelwand der Anti-LGBTI-Rhetorik in Europa verbirgt sich eine wachsende Anzahl an Verbündeten, entschlossen, den Hass zu bekämpfen“.
EU als selbsterklärter „Freiheitsraum für LGBTIQ-Personen“
Dies zeige sich an einer Reihe von Gesetzen und Gesetzesänderungen, mit denen die Rechte queerer Menschen geschützt und ausgebaut werden sollen. Zum Beispiel wurde unter anderem in Deutschland, Portugal und den Niederlanden das Blutspendeverbot für schwule und bisexuelle Männer gelockert.
Erfreuliche Nachrichten für schwule Paare mit Kind gab es letztes Jahr auch aus Irland. Gleichgeschlechtliche männliche Paare können seit März 24 Wochen Elternurlaub und die damit verbundenen Leistungen in Anspruch nehmen. Diese Regelung galt zuvor nur für Mütter und alleinerziehende Väter.
Positiv wird auch hervorgehoben, dass supranationale Organisationen wie der Europäische Gerichtshof oder die Europäische Union sich auf der Seite der LGBTI-Community positioniert und die EU zum „Freiheitsraum für LGBTIQ-Personen“ erklärte haben. „Das bei weitem stärkste Bekenntnis zu den LGBTI-Menschenrechten auf EU-Ebene kam, als die Europäische Kommission im Juli richtungsweisende Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn und Polen einleitete“, so Paradis.
Ein Jahr zwischen Euphorie und Enttäuschung auch in Deutschland
Ein partieller Rückblick auf die LGBT-Politik in Deutschland bestätigt dieses ambivalente Bild aus einschränkenden und fortschrittlichen Regelungen bei der Anerkennung und Gleichberechtigung queeren Lebens.
2021 startete mit einem Akt queeren Empowerments, als sich im Februar 185 Schauspieler*innen als Teil der LGBTI-Community outeten und in diesem Ausmaß noch nie dagewesene Debatte über Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität in der Filmbranche anstießen.
Im März verbot das deutsche Parlament gesetzlich, geschlechtsangleichende Eingriffe bei intersexuellen Kindern vorzunehmen, sollten diese nicht lebensnotwendige sein. Ein Gesetz, für das intersexuellen Personen und Organisationen mehr als 25 Jahre gekämpft hatten.
Andere Initiativen scheiterten dagegen: Im Mai lehnt der Bundestag ein Auf für das Transsexuellengesetz ab. Die Gesetzesentwürfe von FDP und den Grünen zur Stärkung der geschlechtlichen Selbstbestimmung waren gescheitert.
Nicht einmal zwei Wochen später eine weitere enttäuschende Meldung: Artikel 3 des Grundgesetztes, der Antidiskriminierungsartikel, wird nicht um die Kategorie „sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität“ ergänzt, wie von einigen Bundesländern gefordert. Union und SPD blockierten den Entwurf bereits im Rechtsausschuss, sodass es gar nicht erst zur Abstimmung kam.
Im Juni dann die Fußball-Europameisterschaft, überschattet durch das „Anti-LGBT-Propaganda“-Gesetz in Ungarn, welches zur gleichen Zeit verabschiedet wurde. Die Stadt München wollte die Allianz Arena beim Spiel gegen Ungarn in Regenbogenfarben beleuchten, doch die UEFA weigerte sich. Was ein wirkungsmächtiges Symbol für die Unterstützung und Akzeptanz queerer Menschen hätte sein können, wurde zum Beweis, dass die Solidarität mit LGBTQs oft nur so weit geht, wie politische und finanzielle Interessen nicht gefährdet werden.
Jasmin Ehbauer
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: