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Dávid Vig, Direktor von Amnesty International in Ungarn.

© privat / privat

Queere Menschen in Ungarn: „Ich überlege es mir sehr gut, bevor ich die Hand meines Partners nehme“

In Ungarn wird die Lage für queere Menschen immer schlechter. Dávid Vig von Amnesty International erklärt, welche Auswirkungen die Anti-LGBTIQ-Gesetze der Regierung Orbán haben.

In den vergangenen zwei Jahren hat sich die Lage für queere Menschen in Ungarn drastisch verschlechtert. 2020 erließ die Regierung unter Viktor Orbán ein Gesetz, dass es trans und inter Personen unmöglich macht, ihren Geschlechtseintrag im standesamtlichen Personenregister zu ändern. Im vergangenen Sommer wurde zudem ein Gesetz verabschiedet, dass „Werbung“ für Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit verbietet.

Welche konkreten Auswirkungen diese Gesetze haben, erklärt Dávid Vig im Interview. Er ist nicht nur der Direktor von Amnesty International in Ungarn, sondern erfährt als Mitglied der queeren Community die zunehmende Diskriminierung am eigenen Leib. 

Herr Vig, vergangene Woche wurden in Bratislava zwei Männer vor einer Gay-Bar erschossen. Was waren ihre Gedanken, als Sie von dem Attentat hörten?
Das erste Gefühl, das ich empfand, war Angst. Denn was passiert ist, ist nicht nur tragisch, sondern hätte uns alle treffen können. Dass die slowakische Präsidentin nach dem Attentat die Bar besucht und den Betreiber in den Arm genommen hat, hat mich sehr berührt. Genau das erwarte ich von Politiker:innen: sich stark zu machen gegen den Hass. Das würde ich mir auch für mein Land wünschen.

Stattdessen hat die Orbán-Regierung vergangenes Jahr ein queerfeindliches Gesetz erlassen, das ein Verbot von queerem Aufklärungsmaterial für Kinder sowie von Werbung vorsieht, die eine Sexualität abseits der heterosexuellen Norm darstellen. Welche konkreten Auswirkungen hat das Gesetz?
In einer Schule haben Eltern einen Regenbogen an eine Wand gemalt. Der Bürgermeister des Ortes, der der regierenden Fidesz-Partei angehört, hat daraus eine nationale Angelegenheit gemacht – obwohl dieser Regenbogen in keinem Zusammenhang mit der LGBTIQ+-Community stand. Einen ähnlichen Fall gab es in einem Kindergarten in einem Ort, der nicht allzu weit von Budapest entfernt liegt.

Zudem berichten Organisationen, dass sich die queerfeindlichen Hassverbrechen im letzten Jahr verdoppelt haben. Opfer berichten, dass die Täter:innen sich auf das neue Gesetz berufen und sich durch die Regelung in ihrem Handeln bestärkt fühlen. Die Politiker:innen, die dieses Gesetz verabschiedet haben, tragen für diesen Umstand große Verantwortung.

Orbán behauptet stets, das Gesetz diene dem Schutz der Kinder. 
Wir haben eine nationale Umfrage durchgeführt, die ergeben hat, dass die Menschen diesen Unsinn nicht glauben. Sie glauben nicht daran, dass Kinder homosexuell werden, wenn man ihnen schwule oder lesbische Charaktere zeigt.

Proteste gegen die Anti-LGBTIQ-Gesetze der ungarischen Regierung in Budapest im Jahr 2021.
Proteste gegen die Anti-LGBTIQ-Gesetze der ungarischen Regierung in Budapest im Jahr 2021.

© REUTERS / Marton Monus

Vielmehr schadet dieses Gesetz den jungen Menschen im Land. Kinder und Jugendliche, die zu Hause nicht angemessen über sexuelle Gesundheit und Rechte aufgeklärt werden, haben nun auch in der Schule keinen Zugang mehr zu entsprechenden Aufklärungsprogrammen. Auch diejenigen, die homo- und transfeindliches Mobbing erleben, haben keinen Zugang zu Programmen, Hilfen und Diensten, die ihnen früher zur Verfügung standen.

In einem Interview haben Sie mal gesagt, dass Amnesty International seine Bildungsprogramme wegen des neuen Verbots zur sexuellen Aufklärung nicht ändern wird. Konnten Sie dieses Versprechen tatsächlich einhalten?
Vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes konnten wir jedes Jahr rund 5.000 Jugendliche mit unseren Bildungsprogrammen erreichen. Im letzten Jahr waren es weniger als 1.500. Manchmal laden uns Lehrer:innen ein und fordern, dass wir LGBTIQ-Themen ausklammern. Doch bei diesem Punkt gehen wir keine Kompromisse ein. Wir können nicht über Mobbing mit den Schüler:innen sprechen und dann einen der wichtigsten Ursachen, nämlich Queerfeindlichkeit, einfach ausklammern. 

Brechen Sie momentan also das Gesetz?
Ich bin Jurist und es fällt mir schwer zu verstehen, was diese Gesetzgebung genau vorgibt. Denn es verbietet die Darstellung von Homosexualität und von Geschlechtsangleichungen. Doch was bedeutet das aus juristischer Sicht? Wenn wir über Homosexualität als Ursache für Mobbing sprechen, propagieren wir damit Homosexualität? Meines Erachtens verstoßen wir mit unseren Bildungsprogrammen nicht gegen das Gesetz. 

Sie sind selbst homosexuell. Haben Sie seit der Gesetzesänderung am eigenen Leib erfahren müssen, dass die queerfeindliche Diskriminierung in Ungarn zunimmt?
Seitdem das Gesetz im vergangenen Sommer erlassen wurde, nehmen die Mails mit abscheulichen, homofeindlichen Inhalten stark zu. Jedes Mal, wenn ich öffentlich über dieses Thema spreche, bekomme ich als Folge Hassnachrichten zugeschickt. 

Leben Menschen, die sich im Jahr 2022 in Ungarn offen queer zeigen, gefährlich?
In Budapest sieht man nur selten gleichgeschlechtliche Paare, die Händchen halten. Ich überlege es mir auch jedes Mal sehr gut, bevor ich die Hand meines Partners nehme. Dabei komme ich aus einem sehr privilegierten Umfeld, das mich unterstützt. Aber diejenigen, die aus unterprivilegierten Gesellschaftsgruppen kommen oder außerhalb der Hauptstadt leben, sind noch mehr mit Diskriminierung und Ausgrenzung konfrontiert. 

Ich kenne mindestens ein Dutzend Personen, die Ungarn wegen der schlechter werdenden Situation verlassen haben.

Dávid Vig

Ist die Situation für queere Menschen in Ungarn bereits so schlimm, dass sie das Land verlassen?
Ich kenne mindestens ein Dutzend Personen, die Ungarn wegen der schlechter werdenden Situation verlassen haben. Berlin gilt für viele queere Menschen als Zufluchtsort. Aber natürlich können es sich nur bessergestellte Personen erlauben, in ein anderes Land zu ziehen. Denn dafür braucht es sowohl Geld als auch kulturelles Kapital.

Befürchten Sie, dass die Regierung in Zukunft noch mehr queerfeindliche Gesetze erlassen wird?
Wenn Sie mir diese Frage vor drei Jahren gestellt hätten, hätte ich nein gesagt. Damals konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Regierung einen solchen Angriff auf die LGBTIQ-Community starten würde – und schauen Sie mal, wo wir heute stehen.

Die „Propaganda-Gesetzgebung“ vom vergangenen Jahr ist fast eine Copy-Paste-Version der Gesetzgebung in Russland. Die Formulierungen, mit denen Ministerpräsident Orbán dieses Gesetz verteidigte, sind fast wortgleich mit denen Wladimir Putin 2012 das Gesetz verteidigte. Mich beunruhigt der Weg, den die ungarische Regierung eingeschlagen hat. Ich habe nur wenig Hoffnung, dass sie davon wieder abrücken wird.

Gibt es irgendetwas, das Ihnen Hoffnung macht?
Dass sich in der Bevölkerung Widerstand regt und dass vor allem junge Menschen ein viel positiveres Bild der queeren Community haben. 

Die EU-Kommission verklagt Ungarn wegen des Anti-LGBTIQ-Gesetzes vor dem Europäischen Gerichtshof. Glauben Sie, dass die Klage erfolgreich sein wird?
Die vorgebrachten Argumente der Kommission sind sehr überzeugend. Ich gehe davon aus, dass der Europäische Gerichtshof in Luxemburg gegen Ungarn entscheiden wird, und ich hoffe sehr, dass das Propaganda-Gesetz dann abgeschafft wird. Queerfeindliche Volksverhetzung hat weder in der EU noch sonst irgendwo Platz. 

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