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Hochgestreckte Hände mit Aidsschleife.

© Getty Images

Stigmatisierung von HIV-Infizierten: Coming-Outs, die keine sein sollten

Wir haben die Krankheit im Griff, doch das Stigma nicht. Niemand sollte sich schämen müssen für eine HIV-Infektion, deren größte Gefahr hierzulande in den Köpfen anderer liegt. Ein Gastbeitrag zum Weltaidstag.

Max Lucks
Ein Gastbeitrag von Max Lucks

Stand:

Die traurige Geschichte der HIV-Epidemie in Deutschland lässt sich im Wesentlichen zweiteilen. Als sich das Virus Anfang der 80er rasant in der Bundesrepublik ausbreitete, kam es zu großen gesellschaftlichen Verwerfungen. Aufgrund fehlender Behandlungsmöglichkeiten war die Sterblichkeit nach einer HIV-Infektion hoch. Bis heute sind schätzungsweise über 30.000 Menschen in Deutschland an den Folgen der Krankheit verstorben.

Mit der Tödlichkeit des Virus einher ging das betäubende soziale Stigma, das ihm anhaftete. Betroffen davon waren insbesondere diejenigen, die ohnehin schon die Hauptleidtragenden von AIDS waren: schwule und bisexuelle Männer. Von Anfang an „heftete sich AIDS an das Schwulsein und an schwule Sexualität, die dadurch unwiderrufbar mit dem Tod verknüpft sein sollte“, resümiert die Geschlechterforscherin Patsy l’Amour laLove in einem 2017 erschienenen Fachartikel. Der Schwule wird so zum Kranken und Aids zu seiner Brandmarkung.

Diese regelrechte Feindseligkeit gegenüber Aidskranken, die l’Amour laLove mit Verweis auf den Sexualforscher Guy Hocquenghem bemerkt, mündet darin, dass sich die Betroffenen in den Augen der Gesellschaft durch ihre Infektion schuldig gemacht hätten. In den politischen Debatten der Bundesrepublik fabulierte man nun, wie man diesem Problem habhaft werden könne: Schwule therapieren oder doch eher abschotten und in Quarantäne stecken?

Sehr viel bessere Therapiemethoden

Dank besserer Therapiemethoden wurde HIV in Deutschland heute ein großer Teil seiner tödlichen Wucht genommen. HIV-Positive unter Therapie, und das sind immerhin 97 Prozent aller positiv Diagnostizierten in Deutschland, können heute die gleiche Lebensqualität und Lebenserwartung wie Nichtinfizierte erreichen und sind zudem nicht ansteckend für andere. Man könnte glatt meinen, die gesellschaftliche Debatte sei an dieser Stelle beendet. Doch was fortlebt, ist die unsägliche Stigmatisierung der Betroffenen.

Die letzte größere Befragung zur Diskriminierung HIV-Infizierter in Deutschland wurde 2021 von der Deutschen Aidshilfe herausgegeben. Damals gaben 95 Prozent der befragten HIV-Infizierten an, im vergangenen Jahr aufgrund ihrer Infektion diskriminiert worden zu sein.

Besonders häufig traten diese Negativerfahrungen im Gesundheitswesen auf. So wurde fast jedem sechsten Befragten beispielsweise schon eine Zahnbehandlung verwehrt im Irrglauben, dies zöge besondere Vorsichtsmaßnahmen mit sich. Aus dem gleichen Grund werden Patientenakten von HIV-Infizierten zudem häufig von außen sichtbar gekennzeichnet – und somit wird die Krankheit erneut zur Brandmarkung wie einst schon.

Im Jahr 2022 berichteten Medien sogar über einen Studenten der Zahnmedizin in Hessen, dem aufgrund seiner HIV-Infektion die Fortsetzung seines Studiums verweigert wurde. Begleitet wurde diese Farce von einem dröhnend lauten Schweigen aus Politik, Landesregierung und Gesellschaft. Ein Schweigen, dass wohl alle HIV-Positiven gehört haben werden und ihnen das Gefühl politischer Solidarität raubt.

Ein Viertel der Befragten lege seinen Gesundheitsstatus aufgrund solcher Erfahrungen deshalb nicht mehr offen. Und ein ebenso großer Teil der HIV-Positiven fühlt sich schuldig oder schämt sich gar für seine Krankheit.

Diese Zustände sollten uns nicht nur Anlass zum Denken, sondern auch zum Handeln geben. Medizinisch gab es große Fortschritte. Doch ebenso große Sprünge in Sachen gesellschaftlicher Akzeptanz blieben bislang aus. Im Gegenteil: Die Vorurteile gegenüber HIV-Positiven ziehen sich augenscheinlich auch gerade durch eben jenen Sektor, der eigentlich am sensibilisiertesten für ihre Situation sein sollte.

Schweigen aus Selbstschutz

L’Amour laLove beschreibt die Öffentlichmachung der eigenen HIV-Infektion für Schwule als eine Art zweites Coming-out. Die Frage, ob man als HIV-Infizierter dennoch liebenswert sei, werde so „zur quälenden Angst und zu einer nahezu erstickenden Scham“. Dieses zweite Coming-out zu vollziehen, kostet Betroffene oft ähnlich viel Mut und Kraft wie das erste. Gehemmt werden sie auch durch die negativen Vorerfahrungen aus ihrem Umfeld.

Der diesjährige Welt-Aids-Tag steht unter dem Motto „Geh den Weg der Rechte: Meine Gesundheit, mein Recht!“. Er soll uns in Erinnerung rufen, dass Menschen mit HIV besonders schutzbedürftig sind. Es ist ihr Recht und unsere gesellschaftliche Pflicht, diesem Schutzbedürfnis nachzukommen.

Dazu gehört auch, die Lebenssituation von Menschen mit HIV zu verstehen, statt sie zu verurteilen. Niemand sollte sich schämen müssen für eine Krankheit, dessen größte Gefahr hierzulande in den Köpfen anderer liegt. Zu einer wirksamen Menschenrechtspolitik gehört HIV-Positive als Menschen zu verstehen, die Schutz und Unterstützung in Form von Medikamenten brauchen, wirksam Prävention auszubauen und endlich das quälende Stigma zu durchbrechen.

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