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Blick auf die „kalte Karibik“ von Dänemark.

© Martin Kaluza

Dänemarks „kalte Karibik“: Unterwegs auf der Insel Møn

Kalkschalen winziger Algen formten die Felsen am Meer. Heute zählen sie zu den Wahrzeichen von Møn. Eine Erkundung der dänischen Insel per Rad und zu Fuß.

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An den leuchtend weißen Kreidefelsen von Møns Klint kann man die Strandbesucher in zwei Gruppen einteilen: Die einen schauen nach oben, die anderen nach unten. Während die einen die Hälse recken, um die steilen Wände hinauf zu staunen und mit dem Daumen abzumessen, wie klein die Bäume dort oben aussehen, scannen die anderen mit zusammengezogenen Augenbrauen den Boden ab, stoßen Steine mit der Fußspitze zur Seite und stochern im Algenschlick. Wer hier nur ein bisschen Zeit verbringt, wird ziemlich wahrscheinlich zum Fossiliensammler.

Die Klippen, die in Dänemark so berühmt sind wie die Rügener Stubbenkammer in Deutschland und dieses Jahr von der Unesco in die Liste des Weltnaturerbes aufgenommen wurden, liegen am östlichen Ende der Insel Møn. Über eine Länge von sechs Kilometern brechen dort Landschaft und Wald abrupt an der Ostsee ab. Die Felsen um den 128 Meter hohen Dronningestolen (Königinnenstuhl) strahlen bei Sonne so hell, dass man sie von der über 50 Kilometer entfernten Insel Rügen aus erkennen kann. Die Ähnlichkeit mit den dortigen Kreidefelsen ist kein Zufall. Geologisch sind sie aus einem Wurf.

Wie die weißen Riesen vor 70 Millionen Jahren entstanden sind, lässt man sich am besten im GeoCenter erklären, einem topmodernen Museum, das gleich bei den Klippen im Wald steht. „Hier gab es früher nur eine Infotafel und eine kleine Fossilienausstellung“, sagt Louise Nøhr, 37, die am GeoCenter als Naturguide arbeitet.

Louise Nøhr erklärt Interessierten die Natur rund um die Felsen.

© Martin Kaluza

Erst 2007 wurde das Museum eröffnet und mit ihm ein schönes Café. „Wir erklären hier, wie Dänemark geboren wurde“, sagt sie. „Denn abgesehen von Bornholm ruht es komplett auf einer hunderte Meter dicken Kreideschicht, die am Boden eines Urzeitmeeres aus den Kalkschalen winziger Algen entstand.“

Die Ausstellung beschreibt, wie alles mit allem zusammen hängt – die Geologie, der Wald, die Artenvielfalt. Welche Bäume auf der dünnen Erdschicht über der Kreide wachsen, wie reich die Region in der Steinzeit durch die Feuersteinvorkommen war, wie wichtig die offenen Weidelandschaften für die Biodiversität sind. Der Rundgang endet mit einer Installation, bei der gestandene Erwachsene mit Virtual-Reality-Brille und schlotternden Knien an einem nachgebauten mannshohen Kalkfelsen herumklettern – die Simulation einer Mutprobe.

Bis nach Hiddensee und Rügen strahlen die weißen Klippen.

© Martin Kaluza

Das ganze Gebiet von Møns Klint kann man sich wunderbar zu Fuß erschließen. Sieben ausgewiesene Wanderwege, bis 14,5 Kilometer lang, führen durch Buchenwald, über Felder und unterhalb der Felsen am Strand entlang. Der „Klitekongens Rige“ („Das Reich des Klippenkönigs“), markiert mit einer roten Krone auf grünem Grund, ist der längste der Wege. 2022 nahm ihn das Deutsche Wanderinstitut in seine Premium-Liste auf und wies ihn sogar als besten Wanderweg Europas aus.

Am GeoCenter beginnt der 2,3 Kilometer kurze Gråryg-Rundweg, der unter den hohen Kronen des Klinteskoven-Waldes bald Richtung Kliff führt. Zwischen den Buchen hindurch leuchtet die Ostsee, die in unbestimmter Tiefe da liegt. „Der Wald hier ist besonders“, sagt Louise. „Die Erdschicht auf der Kreide ist sehr dünn. Weil die Wurzeln der Bäume nicht in die Tiefe wachsen können, werden sie hier sehr breit.“ Als wir den Klippenrand erreichen, ist das gut zu erkennen. Ein Baum krallt sich in waghalsiger Position fest, ein Großteil der Wurzeln baumelt schon in der Luft.

Erst die winzig kleinen Fußgänger, die unten über den Sand entlang laufen, geben dem Auge einen Vergleich und lassen ahnen, wie weit der Strand in der Tiefe liegt. Jedes Jahr nagt sich die Ostsee ein Stück weiter in die Kreide, Regenwasser weicht sie auf und Winterfröste sprengen sie ab. Alle paar Jahre kommt es zu einem der großen, spektakulären Abbrüche. Während sich die abgestürzten Kreidebrocken allmählich auflösen, färben sie das Ostseewasser besonders schön, von milchig-weiß bis leuchtend türkis. Die Dänen nennen die Gegend deshalb gern die „kalte Karibik“. Anders als bei den Kreidefelsen der deutschen Nachbarn führen entlang von Møns Klint an fünf Stellen lange Treppen aus dem Wald hinunter an den Strand. 496 Stufen geht es hinab zum Gråryg-Felsen, zum „Graurücken“.

Louise zeigt die Kreidewand hinauf, die von senkrechten, schwarz gepunkteten Linien durchzogen ist, Schichten von Feuerstein. Hier kann man gleich noch einmal in der Praxis anschauen, was im Museum erklärt wurde. „Die Linien standen einmal waagerecht“, sagt Louise, bis nämlich die großen Gletscher kamen und die Kreide so zusammenschoben, dass sie sich wie eine Ziehharmonika gefaltet hat. „Alle Steine, die wir hier am Strand finden, waren einmal da oben drin.“ Die Kreidefelsen spucken täglich Hinweise aus, wie alt sie sind und was sie alles erlebt haben.

Wälder und Wiesen verstecken sich im Hinterland.

© Martin Kaluza

Am Ufer schiebt die sanfte Brandung beim Auf- und Ablaufen tausende Steine und Kiesel mit sich, ein einzigartiges Klackern und Rauschen. „Ein tolles Geräusch, oder?“, sagt Louise. Inmitten der Kiesel sucht sie nach Donnerkeilen. „Vættelys“ heißen sie auf Dänisch, „Wichtellicht“.

Die kleinen Spitzen, so lang wie ein halber kleiner Finger, manche auch viel länger, sind versteinerte Körperteile von Belemniten, eines Tintenfischs, der mit Ende der Kreidezeit ausgestorben ist. Wenn sie feucht sind, leuchten Donnerkeile in einem kräftigen Orange zwischen den vielen Feuersteinen hervor. Also am besten im Spülsaum suchen! „Das Praktische ist, dass das Meer die Steine am Strand nach Größe vorsortiert“, sagt Louise und greift gezielt nach einem spitz zulaufenden runden Stein, so groß wie eine Kirsche, der von gepunkteten Linien überzogen ist: der versteinerte Kern eines Seeigels.

Besonders gesucht sind kugelrunde Feuersteine. Wenn noch zwei, drei kleine Löcher darin zu sehen sind, lohnt es sich, sie zu schütteln – vielleicht ist es ein Klapperstein? Dann verbirgt sich in ihrem Inneren der Rest eines Hornkieselschwamms, um den sich ein Hohlraum gebildet hat. Fossilien jedenfalls findet man hier wie, sorry, Sand am Meer. Was man selbst tragen kann, darf man mitnehmen. Auf dem Rückweg schleppt sich ein vielleicht achtjähriges Mädchen die lange Treppe zum GeoCenter hinauf, eine schwere Tragetasche geschultert, man hört die Steine darin klackern.

Die nächstgelegene Unterkunft ist Camp Møns Klint: ein gut ausgestatteter Campingplatz. Nebenan stehen auf einem eigenen Hügel Glamping-Zelte, alle mit Ofen, einige mit gleich zwei Doppelbetten. Die Glamping-Wiese hat einen eigenen See und eine Panorama-Lounge, in der man morgens die Brötchen oder Zimtschnecken aufwärmen kann.

Hat schon was, einen Privatzugang zum See vor dem Zelt zu haben.

© Martin Kaluza

Eine Spur schicker wird es auf der anderen Seite der Landstraße. Dort befindet sich die Villa Huno, saniert von den gleichen Architekten, die das GeoCenter gebaut haben. Darin untergebracht sind Boutique-Ferienwohnungen. Ein Fenster wie ein riesiger Naturflatscreen, ein paar Meter über dem See, Steg und Badestelle direkt vor der Nase. Die Wolken wechseln hier schnell, auch im Sommer. In einem Moment lässt die Abendsonne die Gräser am Ufer aufleuchten, man schmiert sich bloß eine Stulle, und plötzlich peitscht der Wind den Regen dermaßen an die Scheibe, dass das Bild unscharf wird.

Den Campingplatz hat bereits 1952 die Familie Scavenius gegründet, die das 1.400 Hektar große Gut Klintholm im Osten der Insel besitzt. „Bis 1980 gehörten uns sogar die Kreidefelsen“, sagt Inger Marie Scavenius, 41 Jahre, Mitglied der aktuellen Eigentümergeneration. Gerade hat die Familie 110 Hektar einem großen Naturschutzprojekt zur Verfügung gestellt. Das Land gehört ihr nach wie vor, doch sie verzichtet auf das Recht, etwas darauf anzubauen. Nur das Vieh soll darauf noch grasen dürfen.

Inger Marie Scavenius kämpft für die offene Weidelandschaft.

© Martin Kaluza

„Wir wollen die offene Weidelandschaft erhalten“, sagt Scavenius und schwärmt vom Schwarzgefleckten Bläuling. Der Schmetterling ist der Star der Artenvielfalt auf Møn und soll zu den Profiteuren des Schutzgebiets werden. „Er war einmal in ganz Dänemark heimisch, jetzt ist ein Hügel dort hinten der einzige Ort, an dem er noch lebt,“ sagt Scavenius. Bald sollen auch Führungen im Schutzgebiet stattfinden.

Zurück auf dem Campingplatz. „Brauchst du ein Fahrrad?“, fragt Åse, die Chefin. Drei Mountainbikes stehen vor der Tür, einfache Räder ohne Schloss. Niemand klaut sie in der ganzen Gegend. Sie dienen als willkommene Verkehrsmittel, mit denen man flott Schloss Liselund mit seinem dänemarkweit berühmten englischen Landschaftsgarten erreicht.

Noch ein letzter Spaziergang zu den Felsen.

© Martin Kaluza

Auch hier führt eine Treppe an den Klippen hinunter . Es sind deutlich weniger Menschen unterwegs als am GeoCenter. Und wenn man schon im Sattel sitzt, muss auch ein Abstecher ins Hafenstädtchen Klintholm Havn möglich sein. Dort legen die Ausflugsboote ab, die zu den Kreidefelsen fahren. Wer mit Pferd anreist, findet im Ort sogar eine Kneipe, in die er seinen Gaul mitnehmen darf, das „Klap Hesten“ – einziges Lokal in Dänemark, in dem das erlaubt ist.

Am Tag der Abreise bleibt noch Zeit für einen morgendlichen Spaziergang zu den Klippen, 900 Meter von der Villa Huno entfernt. Um acht Uhr ist hier noch niemand unterwegs, die Kreide blendet in der Morgensonne. Der Blick wandert auf die strahlenden Felsen, danach wieder auf den Boden. Jeder runde Stein wird geprüft und geschüttelt.

Am Ende sieht die Ausbeute so aus: ein Donnerkeil, zwei versteinerte Austern, ein Seeigel, zwei Feuersteine, ein Klapperstein und drei weitere sehr runde Steine, von denen man sich einbilden kann, dass sie irgendwann, wenn man sie zu Hause auf die Heizung legt, doch noch anfangen zu klappern.

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