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Schweiz: Der verwundete Fels

Gipfel- und Gletschertouren in Grindelwald: Wie der Klimawandel den Schweizer Bergen zusetzt.

Im Sommer 2006 strömten Tausende von Schaulustigen ins Bergsturzgebiet an der Eigerostflanke. Der gefürchtete Megacrash blieb jedoch aus. Zur Ruhe gekommen ist der Fels aber noch immer nicht. Auf dem Weg zum Unteren Grindelwaldgletscher kann man Erdgeschichte verstehen lernen – und einen Einblick in die verheerenden Folgen der alpinen Klimaerwärmung bekommen.

Die Pfingstegg ist ein behaglicher Ort. Von der Terrasse des Berggasthauses schaut man in ein herrlich grünes Hochtal, das sich bis zu einer fernen Gratlinie hinaufzieht. Dramatische Formen sind nirgendwo zu sehen. Selbst die Gipfelpyramide des Faulhorns wirkt aus diesem Abstand wie der Teil einer dekorativen Fototapete. Es ist eine Bilderbuchschweiz, die sich dem Betrachter hier bietet.

Dreht man sich zur Linken, sieht die Welt schon etwas anders aus: Ein mehr als dreitausend Meter hoher Felsenkoloss versperrt hier den Blick in den Himmel. Das „Hörnli“ erinnert an eine gigantische Kathedrale, die Wind und Wetter in Jahrmillionen in ein düsteres Fossil verwandelt haben. Dahinter leuchten die Firnhänge des Eigergipfels hervor – anziehend und bedrohlich zugleich.

Seit zwei Jahren bietet das Quellgebiet der Weißen Lütschine noch einen weiteren Schauder: Ein paar Kilometer taleinwärts ist eine zweihundert Meter hohe und ebenso breite Felswand brüchig geworden. Im Sommer 2006 stürzten hier jeden Tag einige Tonnen Kalkgestein auf den Gletscherfuß. Einmal brachen gar 400 000 Kubikmeter auf einmal ab. Der Boden zitterte, und der aufwirbelnde Staub verdunkelte den Himmel. Er wälzte sich bis nach Grindelwald hinunter, wo ängstliche Touristen die Nacht auf gepackten Koffern verbracht haben sollen.

Gewinner der allgemeinen Aufregung war die Pfingsteggbahn, die die Schaulustigen ins Gebirge brachte. Sie bot ein preisgünstiges „Bergsturzticket“ an, das sich bestens verkaufte. Als Dreingabe gab es ein Päckchen mit Papiertaschentüchern, die man sich zum Schutz der Atemwege vor den Mund halten konnte.

Für die Beschaulichkeit der Pfingseggterrasse hatten die Sensationstouristen aber keinen Sinn. „Viele tranken den Kaffee im Stehen“, sagt die Wirtin kopfschüttelnd: „Niemand wollte den großen Crash verpassen.“ Dafür musste man zur Bäregg-Hütte aufsteigen, die immerhin anderthalb Wanderstunden entfernt liegt.

Dass dies keine Gegend für gemütliche Spaziergänge ist, wird einem schon nach wenigen hundert Metern klar. Gerade einmal einen Meter breit, führt der Bergweg durch steilste Grashänge, an deren unterem Ende der Abgrund gähnt. Irgendwann geht es unter einer Felswand hindurch, von der Wasser tropft, dann ergießt sich gar ein richtiger Wasserfall auf den Weg. Auch drüben, jenseits der Gletscherschlucht, stürzen Kaskaden zu Tal, die Sonne ist längst hinter dem Eigermassiv verschwunden. Es ist jedoch nicht die zunehmende Düsternis, die den Adrenalinspiegel steigen lässt. Viel schlimmer ist die Ungewissheit, wo genau der Berg denn seine Stabilität verloren hat. Könnte nicht jeder der unzähligen Felsentürme sogleich in sich zusammenfallen? Zu allem Überfluss hat es in den letzten beiden Tagen stark geregnet. Wie haltbar sind die Alpen noch unter diesen Bedingungen? Muss man nicht lebensmüde sein, um eine Nacht in der Bäregg-Hütte zu verbringen?

Wer die Abbruchstelle entdeckt, ist freilich erst mal beruhigt. Sie liegt am Gegenhang etwa auf gleicher Höhe. Was immer hier abbricht, es kann einem ganz sicher nicht auf den Kopf fallen. Die Bäregg-Terrasse, von der man den besten Blick auf das Geschehen hat, ist menschenleer. Drüben, wo ein breiter Spalt klafft, rieselt es ein bisschen, ansonsten herrscht gespenstische Stille. Auch Hansruedi Burgener, der Bäregg-Wirt, scheint sich für den in Bewegung gekommenen Berg nicht zu interessieren. „Wir sind hier im Hochgebirge, da rutscht und stürzt immer was, das ist seit Urzeiten so und wird auch in Zukunft so sein“, sagt er trocken.

Ein kleines Stück talaufwärts ist wohl doch etwas mehr abgerutscht! Hier stehen die Grundmauern der Vorgängerhütte, die aufgegeben werden musste, nachdem im Frühjahr 2005 plötzlich der halbe Hang in der Gletscherschlucht verschwunden war. Ursache der Rutschung war der Gletscher, genauer: sein langsames Verschwinden. Wo dieser über Jahrtausende den Moränenhang stabilisierte, fehlte nun der Gegendruck, und der Untergrund kollabierte.

Der Felssturz auf der Eigerseite hat die gleiche Ursache: Nach dem Rückzug des Gletschers, der 1860 noch bis knapp unter die Hütte gereicht hatte, entladen sich die Spannungen im Felsen. Dazu kommt, dass Schmelzwasser den Weg in Risse und Spalten gefunden hat. Nicht erst der Frost, sondern allein der Wasserdruck sprengt nun die vordem kompakte Gesteinsmasse auseinander. Deshalb passiert in den Wintermonaten auch kaum etwas. Erst im Frühjahr, wenn das gefrorene Wasser wieder aufzutauen beginnt, setzt der Prozess von neuem ein. Nehmen die Temperaturen im alpinen Hochgebirge weiter so zu wie in den letzten Jahren, werden die nächsten Katastrophenmeldungen nicht lange auf sich warten lassen.

Wer mehr über die Folgen des Klimawandels erfahren will, muss weiter in Richtung Schreckhornhütte aufsteigen. Nach einer Stunde, in der man sich den schmalen Bergsteig mit frei laufenden Schafen teilen muss, weitet er sich zu einem perfekten Logenplatz – einer grasbewachsenen Bergschulter, von der aus man Eiger, Mönch, Schreckhorn und Fiescher Horn zugleich sieht. Das ewige Eis des Unteren Grindelwaldgletschers liegt nun genau gegenüber, zum Greifen nah. Hier spielt sich das eigentliche Klimadrama ab: Im steilsten Teil des Gletschermeeres brechen fast im Halbstundentakt mächtige Eispakete ab und stürzen mit großem Getöse auf den Gletscherrücken – ein Naturschauspiel ersten Ranges, das hautnah mitzuerleben ist und umso eindrücklicher wirkt, als man hier oben meist ganz alleine ist.

Womöglich sind es die Warnschilder des Schweizer Alpenclubs, die die Bergwanderer von diesem einmaligen Aussichtspunkt fernhalten. Sie weisen schon kurz hinter der Bäregg auf Deutsch, Englisch, Französisch und Japanisch darauf hin, dass man sich auf eine „alpine Route“ begibt, sich also den unkalkulierbaren Gefahren des Hochgebirges aussetzt. Die Ursache für die sich hier mehrenden Murengänge und Steinschläge ist das Auftauen des Permafrosts – auch dies natürlich eine Folge der Klimaerwärmung.

Information: Grindelwald-Tourismus, Postfach 124, CH-3818 Grindelwald, Telefonnummer: 0041/33/8541212, E-Mail: touristcenter@grindelwald.ch, Internet: www.grindelwald.com

Gerhart Fitzthum

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