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Kompaktes Trümmereis vor der Bugnase – für die meisten großen Frachter auf der Ostsee kein Problem. Nur das Festfrieren wollen die Kapitäne vermeiden.

© Bernd Ellerbrock

Frachtschiffreise: Holiday im Ice

Als zahlender Passagier auf der „Helmut“ durch die eisige Ostsee – von Hamburg nach St. Petersburg.

Noch ein allerletztes Ruckeln und Schütteln, dann ein sanfter Stoß – und „Helmut“ bewegt sich keinen Zentimeter mehr vom Fleck. Kapitän Lothar Papke gibt Order in den Maschinenraum: „Detlef, es ist 14 Uhr, wir sind fest im Eis. Maschine stopp! Hörst du?“ „Schrei mich nicht so an“, echot es mit gespielter Empörung auf die Brücke zurück. „Bin doch nicht schwerhörig.“ Kurz darauf verstummt das ständige Wummern und Vibrieren des schweren Schiffsmotors, seine monotone Endlosschleifen-Melodie erklingt nicht mehr und ungewohnte Stille macht sich breit. „Helmut“, mit ihren 7900 Tonnen Ladung in 450 Containern, ihrer zwölfköpfigen Crew und drei Passagieren an Bord, hat sich im kompakten Eis der Ostsee selbst festgesetzt.

Denn Kapitän Papke (59) hat am frühen Nachmittag Ankerplatz Nummer 4 erreicht, die ihm zugewiesene Warteposition auf Reede in der Eiswüste vor Kronstadt. Anker werfen muss er nicht, das rund 60 Zentimeter dick gefrorene Ostseewasser wird das Schiff fest umklammern, auf Position halten, von ein wenig Drift vielleicht abgesehen. Geduld ist von nun an ein kluger Ratgeber. Wer weiß, wann es weitergeht zur Einfahrt nach St. Petersburg. Heute noch? Auf keinen Fall, der Inbound-Konvoi wird just zusammengestellt und „Helmut“ ist nicht dabei.

Morgen? Wohl kaum. Oder vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Und übermorgen? Achselzucken, die Russen werden sich schon melden. Bis hierher, 20 Seemeilen vorm Ziel, lief für die im Linienverkehr zwischen Rotterdam, Hamburg und St. Petersburg eingesetzte „Helmut“ noch alles nach Plan. Nun aber heißt es warten …

Passagiere müssen nehmen, was sie bekommen

Zwölf Tage braucht das 134 Meter lange und 22,5 Meter breite Feederschiff für seinen Rundkurs von 2300 Seemeilen, an den sich der nächste nahtlos wieder anschließt. Nur mit rund um die Uhr fahrenden Schiffen lässt sich Geld verdienen – und mit Pünktlichkeit. Eine Verzögerung in Rotterdam war in Hamburg drei Tage zuvor bereits wieder aufgeholt, wo „Helmut“ wegen ganzer 30 Container am Burchardkai festgemacht hatte und fahrplanmäßig wieder ablegen konnte.

Kammer auf der „Helmut“: warm, einigermaßen gemütlich – mehr braucht kein Mensch
Kammer auf der „Helmut“: warm, einigermaßen gemütlich – mehr braucht kein Mensch

© Bernd Ellerbrock

Hamburg ist auch Einschiffungshafen für drei Passagiere, die bei einem ungemütlichen Mix aus Schnee, Regen, Hagel und Nasskälte froh sind, ihre gemütlichen, warmen Kammern beziehen zu können. Auf dem Kapitänsdeck, also ganz oben mit freiem Blick nach vorn: die geräumige Eignersuite mit Wohnraum, Schlafraum und Bad. Auf dem C-Deck eine normale kleine Mannschaftskabine und auf dem B-Deck die etwas größere für einen 3. Offizier, mit freiem Blick seitwärts. Auf einem Schiff spiegeln die Kammergrößen schon seit jeher die Bordhierarchie wider. Passagiere müssen nehmen, was sie bekommen.

Freie Kammern vergibt die Traditionsreederei Jens & Waller aus Stade gerne an mitfahrende Gäste, die an Bord ihrer insgesamt drei baugleichen Schiffe „die Weltmeere erkunden möchten“. Doch was soll reizvoll sein an einer winterlichen Fahrt in die grimmige Kälte des Finnischen Meerbusens? Warum dieser Zeitaufwand einer mehrtägigen Schiffsreise nach St. Petersburg, das doch auch in drei Stunden mit dem Flieger erreicht werden kann? Und wenn schon Schiff, warum nicht als Ostsee-Kreuzfahrt im Sommer, wo das Sonnendeck mit Cocktails und Pool lockt?

„Helmut“ ist nicht allein

Stoßzeit auf der Ostsee. Nur weg mit dem Eis und immer schön in der Rinne bleiben.
Stoßzeit auf der Ostsee. Nur weg mit dem Eis und immer schön in der Rinne bleiben.

© Bernd Ellerbrock

Nach 48 Stunden Fahrt, mitten in der Nacht, erreicht „Helmut“ die ersten Eisfelder in Höhe der Rigaer Bucht. Das Spektakel beginnt. Zur Begrüßung pochen die ersten Treibeisklumpen gegen die Bordwand. Tock, tock, tock. Große und kleinere Exemplare, die aussehen wie die unregelmäßigen Einzelteile eines in 1000 Stücke zerbrochenen Spiegels, blitzen im Scheinwerferlicht des Schiffes auf, taumeln an der Bordwand längs und verschwinden achtern wieder in der dunklen Nacht. Weg sind sie, neue kommen angebrandet. Tausende.

„Helmut“ verliert kaum an Fahrt, stampft mit 16 Knoten zügig voran, bis die erste geschlossene Eisdecke erreicht ist. Das Schiff mit der Eisklasse E 3 (nur für arktische Gewässer bedarf es einer noch höheren) und knapp 8000 KW Maschinenleistung pflügt und sägt jetzt durch das gefrorene Nass wie durch Butter, wird dabei aber langsamer und deutlich lauter, so dass auch der letzte Passagier in seiner Koje unweigerlich hochfährt. 400 Kilometer geschlossene Eisdecke liegen jetzt zwischen Schiff und Zielhafen.

Das Gepoltere durchs Eis ersetzt fortan das Säuseln von Gischt und Wellen. Und aus dem seichten Rollen oder Stampfen auf offener See wird jetzt ein Stoßen, Rütteln und Kippeln. Für die Passagiere hat das immerhin einen Vorteil: Seekrank wird nun keiner mehr.

Lothar Papke hat viel zu erzählen – aber jetzt nicht

Draußen sind es jetzt lausige minus 15 Grad, ein schneidender Wind frischt auf, und als nach kurzer Zeit die Morgenröte verblasst, avancieren die bunten Container zu den einzigen Farbflecken in der weißgrauen Eiswüste weit und breit. In der geschlossenen, sich bis zum Horizont hinstreckenden Eisdecke gleißt das fahle Sonnenlicht, wird gebrochen an Ecken und Kanten übereinandergeschobener Schollen. Die von einer gigantischen Eisplatte versiegelte Ostsee als unendliches, weißes Glitzermeer: wunderschön, gewaltig, erhaben, ästhetisch und Respekt einflößend. Die Passagiere haben bekommen, was sie wollten: Holiday im Ice.

Kapitän Papke (rechts) kennt sich im Eis bestens aus.
Kapitän Papke (rechts) kennt sich im Eis bestens aus.

© Bernd Ellerbrock

Als Kapitän Papke pünktlich um 8 Uhr seine Brückenwache antritt, ist „Helmut“ nicht allein. Auf der maritimen Eisautobahn nach St. Petersburg sind Dutzende Schiffe unterwegs. Leuchtend rot gestrichene Tanker, mit Holzstämmen vollgepackte Bulker und vor allem Frachter mit Tausenden von Containern an Bord quälen, schieben und drängeln sich gen Osten. Aus dem stoischen Geradeauskurs von Waypoint zu Waypoint mit Autopilot wie auf offener See ist hier ein einziges Suchen, Tasten und Schlängeln geworden. Jeder fahndet nach dem besten Weg, keiner möchte stecken bleiben, alle wollen da lang, wo möglichst wenig Eis gebrochen werden muss und möglichst viel Schiffsdiesel gespart werden kann. Und voran muss es gehen, und sei es auch nur mit ein paar Knoten Fahrt. Wenn es gar nicht mehr geht, wird auch schon mal im eigenen Fahrwasser zurückgesetzt und mit voller Wucht wieder ins Eis hineinmanövriert. „Rammings“ nennen sie das.

Lothar Papke kennt sich in diesen Gewässern und im Eis bestens aus. Schon als 16-Jähriger fuhr er zur See, bis zur Wende für die Deutsche Seereederei der DDR. Der Mann hat eine Menge zu erzählen – aber jetzt nicht. Zwar sind Eisfahrten für den Routinier nichts Besonderes. Dennoch steht er nun stundenlang hochkonzentriert hinter seinem Fahrstand, die elektronische Seekarte fest im Blick, das Fernglas griffbereit, mit den Augen ständig den Horizont absuchend.

„Yes, stuck in the ice!“

Angekommen, festgemacht. Lange will die „Helmut“ in St. Petersburg nicht bleiben.
Angekommen, festgemacht. Lange will die „Helmut“ in St. Petersburg nicht bleiben.

© Bernd Ellerbrock

St. Petersburg Traffic hat „Helmut“ und etliche weitere Schiffe mit geringem Tiefgang auf eine Route weit südlich und küstennah geleitet. Eine Art Nebenstrecke sozusagen. Kapitän Papke weiß, dass er hier gut durchkommt. „Besser frisches und geschlossenes Eis knacken, als in schwimmendes und kompaktes Eis reinfahren“, klärt er seine Passagiere auf, die selbstverständlich auf der Brücke fasziniert mit dabei sind. Da bliebe man schnell mal stecken. Am schlimmsten seien aber Presseis-Rücken, die entstehen, wenn Wind und Wellen zerschlagene Eisschollen meterhoch übereinanderschieben.

Um sie ausfindig zu machen, schickten die Russen auch mal Helikopter los. Und dass der Sturm den Schnee weggefegt habe, sei heute von Vorteil, weil so die Beschaffenheit des Eises besser zu erkennen sei. Dunkles Eis? „Sollst du suchen! Das ist jung und dünn.“ Helles Eis? „Meiden! Alt, dick und kompakt.“ Eine Lektion Eislehre mehr vom „Alten“ für die Passagiere.

Stunde um Stunde rumpelt „Helmut“ ostwärts, verliert kräftig an Fahrt, denn das Eis wird langsam, aber sicher immer dicker. Bald taucht auch der erste Eisbrecher auf, der einen schlappgemachten Holzfrachter – seemännisch korrekt ausgedrückt – „auf den Haken genommen“ hat. Papke und sein 67-jähriger Chief Detlef Stampärt, der auf einen Pott Kaffee mal eben auf die Brücke gekommen ist, frotzeln voll falschen Mitleids rum. „So schnell wie auf’m Haken ist der noch nie durchs Eis gekommen.“ Allerdings – das wird teuer. Eisbrecherunterstützung sei zwar kostenfrei, nur eben das Abschleppen nicht. „Das wird halbstündlich abgerechnet“, weiß Papke.

St. Petersburg ist Russlands „Fenster nach Europa“

„Helmut“ kämpft sich derweil weiter durch die frostige Materie, am liebsten in von anderen Schiffen bereits frei gefahrenen und vom Eis noch nicht wieder zurückeroberten Rinnen. Ob freiwillig oder nicht: Hier hilft der Stärkere zwangsläufig dem Schwächeren. Auch Papke weiß das zu nutzen. „Der da ist unser Freund“, stellt er nüchtern fest, als er sich eine Zeit lang hinter einen Bulker hängt. „Und die da“, Papke zeigt mit dem Finger auf den Radarschirm, „die drei können nicht mehr, liegen fest. Ende, aus. Null Knoten!“ Filipino Hermann – der 1. Offizier heißt wirklich so – pflichtet ihm bei: „Yes, stuck in the ice!“ Aus eigener Kraft kommen die Schiffe nicht mehr voran.

Am nächsten Mittag ist es dann mit dem Fahren erst mal vorbei. Keine Einfahrt nach St. Petersburg! „Helmut“ gesellt sich zu einem Dutzend weiterer Schiffe, die hier auf Reede vor Kronstadt Zwangspause einlegen müssen. Die Fahrrinne in die Zarenstadt ist so eng, dass Schiffe sich nicht begegnen können und deshalb zwei Mal am Tag nur in Konvois entweder herein- oder herausgelassen werden. Ein mühseliges Unterfangen, doch St. Petersburg ist nun Mal Russlands „Fenster nach Europa“ – allein aus Hamburg werden jährlich mehr als 600 000 Container dorthin geschafft: gefüllt mit Fleisch, Kühlgütern, Obstkonserven, Fahrzeugen, Möbeln, Elektroerzeugnissen sowie chemischen Produkten.

All die Güter liegen nun hier draußen auf Dutzenden von im Eis gestrandeten Schiffen. Auf Abruf bereit. Dann werden erst die Eisbrecher vorfahren und wenn nötig helfen. Letztlich wird den Passagieren Zeit genug bleiben, sich die Stadt an der Newa in Ruhe anzuschauen. Denn bis alle Container abgeladen, mehrere Terminals angelaufen und neue Boxen wieder aufgeladen sind, vergehen zwei Tage. Dann heißt es erneut warten auf den nächsten „Outbound“-Konvoi und den erlösenden Funkspruch: Es geht weiter. Und irgendwann wird auch die „Helmut“ an der Reihe sein.

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