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So ging’s, wenn kleine Bettler und Diebe nicht ablieferten. Schauspieler lassen in Deventer die Zeiten von Charles Dickens lebendig werden.

© Vincent Jannink, picture alliance

Charles Dickens in Holland: Humbug in den Gassen

Die Bürger des niederländischen Städtchens Deventer lassen alljährlich vor Weihnachten die Welt von Charles Dickens lebendig werden.

Nein, er ist überhaupt nicht zufrieden. Die Welt ist schlecht. Die Menschheit sowieso. Die Wirtschaft steckt in der Krise. Zeternd, mit mürrischem Gesicht schreitet er – mit schwarzem Mantel und Zylinder bekleidet – übers Kopfsteinpflaster. Er beschimpft, wen oder was immer seinen Weg kreuzt. Ebenezer Scrooge ist sein Name. Für das freundliche „Merry Christmas“, das von allen Seiten durch die Straßen tönt, denn es sind nur noch wenige Tage bis Weihnachten, hat er nur ein „Bah, humbug!“ übrig. London? England, Mitte des 19. Jahrhunderts? Nein, Deventer. In der niederländischen Stadt findet seit mehr als 20 Jahren im Dezember das Charles-Dickens-Festival statt.

Die feine Gesellschaft hat sich herausgeputzt. Flaniert durch die Gassen der Stadt. Trifft sich zum Plausch. Doch nicht jeder wandelt auf der Sonnenseite des Lebens. Am Ende der Straße mühen sich Frauen und Mädchen mit Rubbelbrett und Bürste ab, um Wäsche zu reinigen. Aus schweren Bottichen dampft die heiße Seifenlauge. Gegenüber spielt die Heilsarmee „Molly Malone“, und rußverschmierte Waisenkinder liegen halb erfroren und bettelnd in der Gosse. Scrooge hastet unbeeindruckt weiter.

„Macht Platz für den Tod“, hallt es plötzlich durch die Gasse. Dem Leichenzug muss auch der notorisch schlecht gelaunte Mann ausweichen. Dann bleibt er neben einer Suppenküche stehen. „Ein Teller Erbsensuppe – zwei Euro“, steht auf dem Schild. Das klingt weder nach 1860 noch nach britischem Königreich. Alles eben nur gespielt. Was vor 23 Jahren klein begann, hat sich in Deventer zu einem formidablen Spektakel um Charles Dickens gemausert. Der britische Autor, der vor 200 Jahren in Portsmouth geboren wurde, ist der geistige Vater von Ebenezer Scrooge, Oliver Twist, David Copperfield, Nicholas Nickleby, Samuel Pickwick, Uriah Heep und Toby Veck.

Ein ganz besonderer verkaufsoffener Sonntag

Doch Charles Dickens lebte in England. Kam nie nach Deventer. Wieso wird es dann einmal im Jahr viktorianisch in der Kleinstadt an der Ijssel? Die Erfinderin des Festivals ist Emmy Strik. In der Walstraat im Altstadtquartier Bergkwartier betrieb sie Jahrzehnte einen kleinen Laden für Geschenkartikel, den heute ihre Tochter führt. Im Dezember 1991 wollten die Stadtväter einen verkaufsoffenen Sonntag abhalten. Emmy Strik war strikt dagegen. „Nach sechs Arbeitstagen wollte ich nicht auch noch sonntags hinter der Ladentheke stehen. Wenn es schon sein musste, dann sollte an dem Tag etwas Besonders stattfinden.“

So kam ihr die Idee zu einem viktorianischen Fest. „Ich habe die Dickens-Bücher verschlungen und liebe England“, erzählt die heute 71-Jährige, die während der Veranstaltung eine Zofe Queen Victorias mimt. „Das Ambiente unserer Hansestadt mit Häusern aus verschiedenen Epochen, viele aus dem 16. und 17. Jahrhundert, und Kopfsteinpflasterstraßen bildet doch die perfekte Kulisse.“ 70 Akteure konnte Emmy Strik damals zum Mitmachen bewegen. Heute sind es um 1000 Deventer, die in viktorianische Kleider schlüpfen und Charaktere aus den unterschiedlichsten Dicken’schen Werken darstellen, Werke wie zum Beispiel „Eine Weihnachtsgeschichte“, „Oliver Twist“, „David Copperfield“ oder „Große Erwartungen“.

„Allerdings spielen wir die Rollen nicht“, meint Loek van Voorst, „Wir leben tatsächlich zwei Tage lang die Person, die wir darstellen.“ Seit 18 Jahren ist er der herzlose Ebenezer Scrooge aus dem Roman „Eine Weihnachtsgeschichte“. „Nach den Feiertagen darf ich jedoch gottlob wieder fröhlich sein“, sagt van Voorst. „Denn über Weihnachten besinnt sich Scrooge, wird warmherzig und wohltätig. Aber an diesen beiden Tagen kann ich mal so richtig was vom Stapel lassen. Das macht auch Spaß.“

In der Roggestraat wird es eng

Die vornehme Gesellschaft
Die vornehme Gesellschaft

© Dagmar Krappe

Mit seinen Veröffentlichungen wollte Dickens die Aufmerksamkeit der Leser auf die Not der Armen, Kinderarbeit, die sozialen Missstände in der englischen Gesellschaft lenken. Stark autobiografische Züge trägt die Geschichte über David Copperfield. Wie Dickens arbeitet sich die Romanfigur aus miserablen Verhältnissen zum angesehenen Schriftsteller empor.

Eine Dudelsackgruppe und Wachsoldaten ziehen auf. Alle zwei Stunden lässt sich „Queen Victoria“ in einer schwarzen Sänfte durch die Straßen tragen, um ihren Untertanen zuzuwinken. Die Wachen vor ihrem „Palast“ in der Walstraat sind so stumm und steif wie ihre Londoner Vorbilder. Hinter einer Mauer bildet Fagin, ein Landstreicher aus dem Roman „Oliver Twist“, soeben eine Bande elternloser Straßenkinder zu Taschendieben aus. Ein Schäfer zieht mit seiner Herde Richtung Bergkirche. Die feine Gesellschaft rümpft angesichts der Szenerie die Nase.

In der Roggestraat wird es jetzt eng. „Votes for Women“, steht auf den Schildern – junge Kammerzofen und Küchenhilfen fordern so das Frauenwahlrecht. Die sieben Herren in Frack und Zylinder hingegen haben ganz andere Nöte. Auf historischen und somit ungefederten Hochrädern holpern sie übers Kopfsteinpflaster.

„Kauft Mistelzweige! All you need is love!“

Auch kurze Szenen aus einzelnen Dickens-Werken werden aufgeführt. Mehrmals am Tag singt ein Kinder- und Jugendchor vor der Kirche, dem höchsten Punkt des mittelalterlichen Viertels, Lieder aus dem Musical „Oliver Twist“. Alle Geschäfte des sogenannten Bergkwartiers haben während des Festivals geöffnet. Die Ladenbesitzer sind verpflichtet, sich der viktorianischen Zeit entsprechend zu kleiden. Das Warenangebot könnte nicht passender sein: feinstes Geschirr, Schokoladenspezialitäten, Tee, Käse, Hüte, Bürsten, Bücher, antike Möbel. „Mistelzweige! Kauft Mistelzweige! All you need is love“, ruft eine junge Blumenverkäuferin. „Ein Bund nur fünf Euro.“ Da ist sie wieder – die Neuzeit!

Fürs leibliche Wohl der alljährlich etwa 150 000 Besucher ist während des Festival gesorgt. „Hier gibt es die besten Muffins und gefüllten Waffeln“, preist eine Küchenmamsell ihre Produkte an. Auf der anderen Straßenseite wartet saftiger Deventer Honigkuchen auf Käufer, den auch die holländische Königsfamilie regelmäßig bezieht. Der Duft von gebrannten Esskastanien zieht um die Bergkirche. Auch auf Punsch und Bockwurst muss niemand verzichten. „Wat zijn ze lekker, wat zijn ze fijn. Warme worsten, warme wijn“, schallt es durch die Gassen. Übertönt werden die Marktschreier allerdings von den zahlreichen Chören und Musikkapellen, die alle paar Meter stimmungsvolle Weihnachtslieder zum Besten geben.

David Copperfield hat seine Verlobte Dora Spenlow untergehakt. Sie wollen den Nachmittag in der Stadt verbringen. Ein paar einflussreiche Freunde treffen. Ein zeternder Mann mit wehendem weißen Haar und schwarzem Mantel kommt ihnen entgegen. „Merry Christmas, Mister Scrooge.“

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