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Ski-Meditation in Alta Badia: Ganz schnell runterkommen
Unser Autor düst die Hänge in Südtirol runter und bemerkt plötzlich eine Veränderung. Wird er so ruhig, weil er wie ein Irrer rast? Eine Spurensuche im Schnee.
Stand:
Weißes Rauschen. Unter einem rast der gefrorene Boden hinweg. Eisiger Fahrtwind. Jetzt bloß keinen Fehler machen. Linksschwung, Rechtsschwung. Krachend greifen die Kanten der Skier in den harten Untergrund. Schön den Rhythmus halten. Wenn es einen jetzt zersägt, bei gut 60 Stundenkilometern, hätte das womöglich böse Folgen. Und der Skiverleiher wäre auch nicht glücklich, wenn man seinen brandneuen Blizzard Thunderhawk ramponieren würde.
Südtirol, Colfosco, Skigebiet Alta Badia, früher Morgen, Piste 50. Dunkelrot. Start auf 2121 Metern. Linkerhand ragt der mächtige Saas Ciampac in den Himmel, vor einem der beige-graue Fels des Sassongher. Nicht ablenken lassen. Augen auf die Piste. Die Bodenunebenheiten abfedern, umspringen, ein kleiner Schneehügel schenkt einem einen winzigen Augenblick im freien Flug. Drehung in der Luft. Sekunden später öffnet sich der Blick ins Tal. Piste 46. Schulterblick. Alles frei. Abbiegen. Vielleicht noch 500 Meter bis zur Talstation der Col-Pradat-Gondel. 100 Meter, 50 Meter. Hart kanten. Stillstand. Luft holen. Sammeln und: Freude!
Wieder bei Atem schweift der Blick hinüber zum bis zu 3150 Meter hohen Sellamassiv, bleibt ruhen auf diesem epochalen Naturwunder aus Millionen Tonnen Gestein. Ein wenig wie eine Großausgabe des Tafelbergs in Kapstadt. Nur mit Schnee auf den Höhen. Es fällt schwer, beim Anblick keine Ehrfurcht zu empfinden, denkt man mit brennenden Oberschenkeln.
Der Mensch hat im Laufe seiner Geschichte zahllose Wege ersonnen, die ihm zur Einkehr im Stress des Alltags verhelfen sollen: Meditation, Gebet, Drogen, Fasten, Malen nach Zahlen. „Gönne dir einen Augenblick der Ruhe und du begreifst, wie närrisch du herumgehastet bist“, lautet ein chinesisches Sprichwort. „In der Ruhe liegt die Kraft“, heißt ein deutsches. Sogar der Brachialphilosoph Friedrich Nietzsche mahnte: „Die größten Ereignisse, das sind nicht unsere lautesten, sondern unsere stillsten Stunden.“
Was aber, wenn das alles falsch ist? Sich alle geirrt haben und der eigentliche Weg zur Entschleunigung gar nicht Innehalten ist, nicht Besinnung, sondern Beschleunigung? Die 130 Pistenkilometer von Alta Badia sollten die Frage beantworten können.

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In San Cassiano, rund 15 Autominuten entfernt von Colfosco, steht Egon Pescollderungg auf einer schneebedeckten sportplatzgroßen Freifläche und lauscht der Theorie. Vor ihm ein Nadelwäldchen. Hinter ihm die von ihm gegründete Langlaufschule Easy Dolomites und die steilen Hänge der Conturines-Spitze. Noch weiter dahinter liegt die Bärenhöhle, die urzeitlichen Knochen, die man dort fand, werden heute in einem Museum im Ort ausgestellt.
Der 59-Jährige, braungebrannt, kantiges Kinn, überlegt, blinzelt in die fallenden Schneeflocken, nickt. „Das Hirn ist der Muskel, der am wenigsten zu beeinflussen ist“, sagt er. Aber, er lächelt, möglich sei das schon. „Und zwar am besten, in dem man das Hirn mit etwas körperlich Forderndem auf Trab hält.“
Beim Joggen, gerade auf ebener Fläche, sei es manchmal schwierig abzuschalten, sagt er. Beim Wandern genauso. Beides zu einfach. Dann laufen nicht nur die Füße, sondern auch die Gedanken auf Hochtouren. „Skifahren und vor allem Langlauf sind jedoch so komplexe Bewegungsabläufe, da kann ich mich gar nicht gleichzeitig auf Alltagsprobleme konzentrieren.“ Psychologen kennen das Phänomen. Der Glücksforscher Mihály Csíkszentmihályi machte es unter dem Namen „Flow“ berühmt.

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Und welche Rolle spielt jetzt die Geschwindigkeit? „Naja“, sagt Pescollderungg, während er die Ski anschnallt, „die technische Herausforderung steigt natürlich mit dem Tempo.“ Ergo: Je schneller, desto mehr Ruhe im Kopf. Entschleunigung durch Beschleunigung.
Speed kriegt man auch beim Langlauf, wie man sieht, als Pescollderungg losskatet. Doch wie schwer es ist, selbst als geübter Alpinfahrer beim ersten Mal hinterherzukommen, zeigt sich recht flott. Die dünnen und im Vergleich zu Alpinski fast gewichtslosen Langlauflatten fordern deutlich mehr Gleichgewichtssinn. Einmal zu weit nach hinten gelehnt, zack, sitzt man im Schnee.
Egon Pescollderungg fährt in seiner leuchtendblauen Jacke vor. Beine beugen, Arme gleichmäßig auf Kniehöhe nach vorne und hinten pendeln lassen, die Knöchel nach innen knicken, damit man nicht wegrutscht, abstoßen. Wiederholen. Und das alles gleichzeitig. Fühlt sich an, als würde man versuchen, beim Rollschuhfahren Hampelmänner zu machen. Aber gut, ist eben die schwierigere der beiden Langlauftechniken – allerdings auch die schnellere.

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Hin und her geht es auf der Übungsfläche. Mit Stöcken, ohne Stöcke, nur rechts abstoßend, dann nur links. Erfahrenere Langläufer und Spaziergänger spenden tröstende Blicke. Links, rechts. Pendeln nicht vergessen. „Und nicht auf die Ski schauen“, ruft Pescollderungg.
Nach ein paar Durchgängen kommt etwas Sicherheit. Von Eleganz möchte man noch nicht sprechen, doch mit der Geschwindigkeit steigt die Freude. Ah, fast schon wieder ausgerutscht! „Nicht denken!“, ruft Pescollderungg. „Denken ist nicht gut für den Rhythmus.“
Nach 40 Minuten klebt einem die Skiunterwäsche am Körper. Irre, wie anstrengend das ist. Warum nochmal gilt Langlauf als Rentnersport? Völlig paradox. Aber die Mühe lohnt. Nach einer guten Stunde lässt sich schon der erste Hügel bezwingen. Links abstoßen, rechts abstoßen, auf die Arme achten, auf die Knie. Auf der anderen Seite geht es abwärts. Eine Ahnung des Rausches, der auch beim Langlauf möglich ist.
Geschwindigkeit macht high. Das scheint ein universelles Phänomen zu sein. Achterbahnen gibt es auf allen Kontinenten, kaum ein Land, in dem Autos fahren, sieht sich nicht genötigt, Geschwindigkeitsbegrenzungen einzuführen. Der mit den „Fast and Furious“-Filmen berühmt gewordene Schauspieler Paul Walker erklärte einmal: „Wenn mich die Geschwindigkeit eines Tages umbringt, dann weint nicht. Ich habe gelächelt.“ Die mehrfache Weltcupsiegern Lindsey Vonn gab zu Protokoll: „Ski fahren ist wie fliegen. Es versetzt dich in einen Zustand vollkommener Freiheit.“

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Wieso das so ist, war lange nicht wirklich zu erklären. Evolutionär ergibt es wenig Sinn. Wer schnell einer Beute hinterherjagt, sollte dabei besser einen klaren Kopf behalten, statt breit grinsend die Welt um sich herum zu vergessen. Raser laufen Gefahr, selbige zu übersehen. Siehe Paul Walker. Er starb 2013 bei einem Autounfall.
Neurologisch ist der Geschwindigkeitsrausch vor allem ein Cocktail aus Dopamin, Adrenalin und dem schmerzsenkenden Endorphin, das das Gehirn ausschüttet, um auf mögliche Verletzungen vorbereitet zu sein. 2015 entdeckten darüber hinaus die beiden Nobelpreisträger May-Britt und Edvard Moser von der Uni Trondheim im entorhinalen Cortex sogenannte „Speed-Zellen“, die immer dann feuern, wenn der Körper in Bewegung kommt.
In San Cassiano meint Egon Pescollderungg, die Zeit sei nun reif für einen kleinen Ausflug in den Rundkurs, hinein ins Wäldchen beim Trainingszentrum. Die Bewegungen sind zwar immer noch alles andere als natürlich, aber der Fahrspaß ist da. Die Blicke der anderen Gäste scheinen auch nicht mehr ganz so mitleidig. Als der erste Abhang erreicht ist, ruft Pescollderungg: „Schön in der Spur bleiben. Laufen lassen, Geschwindigkeit sammeln, genießen. Der nächste Anstieg kommt schnell genug.“ Selig spürt man, wie die Ski Fahrt aufnehmen. Fast wie Fliegen. Bis der nächste Aufstieg naht.
Am Ende, zurück auf dem Übungsplatz, ist man völlig fertig. „Ja, viele Leute unterschätzen das. Zwei Stunden Langlauf sind so intensiv wie ein Tag Skifahren“, sagt Pescollderungg. Doch mit der richtigen Technik könne man viel ausgleichen. Die wirklich zu erlernen, dauere nur etwas. Ihn habe der langsamere Sport bereits als Kind fasziniert. Da habe er Bretter angeschnallt, eine Spur in den Schnee gewalzt und sei losgefahren.
In letzter Zeit scheinen sich mehr Touristen dafür zu begeistern, meint Pescollderungg. Zum einen gebe es mehr Nachfrage von Leuten, denen es auf den Pisten am Berg schlicht zu voll werde. Alta Badia hat bei rund 6500 Einwohnern mehr als 17.000 Gästebetten. Immer mehr Lifte schaffen immer mehr Menschen in immer kürzerer Zeit in die Höhe. Zum anderen kommen einige, denen das Skifahren schlicht zu teuer werde. Eine Tageskarte „Dolomiti Superski“, mit der man auch die weltberühmte Sellaronda fahren kann, kostet in der Hauptsaison 83 Euro. Für den Preis bekommt man fast zwei Wochenkarten auf der Langlaufanlage mit ihren 26 Pistenkilometern.

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Wie ausgepowert man nach dem Tag auf Brettern wirklich ist, merkt man, zurück in Colfosco, am Abend in der Sauna. Während im heimischen Berlin nach einem Tag im Büro der Kopf beim Schwitzen oft noch ungebremst weiterrattert, herrscht jetzt nur selige Erschöpfung. Im Spa des Hotel Grand Ciasa rieselt drinnen die Sanduhr, draußen ein paar Schneeflocken. Drinnen dampfen die Körper, draußen das türkise Wasser des Whirlpools. In der Dunkelheit dahinter sind die Schemen der Berge zu erahnen, wo gerade Planierraupen die Pisten für den nächsten Tag präparieren.
Später steht jemand im Ruheraum und nölt mit Blick auf die Berge, dass das ja inzwischen alles Kunstschnee sei. Allgemeines Aufseufzen. Ja, ja, schade, schade … Man selbst schließt voller Vorfreude auf den morgigen Tag die Augen und denkt: Kunstschnee? Ja, und? Darauf ist man doch viel schneller!
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