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Skifahren abseits der Piste: Der Rausch, die Ruhe – und das tödliche Risiko
Für manche Skifahrer ist es einfach Schnee. Doch für zwei Männer in den französischen Alpen stellt sich jeden Wintertag die Existenzfrage: Wie wird er heute sein?
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Als es dann so weit ist, fühlt es sich doch ein bisschen verboten an. Das schwarz-gelbe Absperrband hat die Pistenwacht schließlich nicht aus Witz gezogen. Und als wäre das nicht deutlich genug, haben sie auch noch ein knallgelbes Schild aufgestellt. „Gefahr!“ steht da drauf. In nicht weniger als vier Sprachen.
Nun gut, Thierry Delecluse wird schon wissen, was er tut. Schließlich lebt der 57-jährige Skilehrer seit mehr als 20 Jahren in den französischen Alpen, genauer gesagt in La Plagne, ziemlich exakt im Dreieck zwischen Lyon, Genf und Turin. Im Lift klang er sehr überzeugend: „250 Pistenkilometer schön und gut, aber das Skigebiet endet ja nicht an den Pisten.“ Also hebt er das Absperrband mit einem Skistock in die Höhe, grinst seinen Gast mit verspiegelter Skibrille an und fordert ihn mit einem Kopfnicken auf, weiterzufahren. Durchatmen, Durchtauchen. Willkommen abseits der Piste.
Die Faszination des Off-Piste-Fahrens ist nicht schwer zu erklären. Hinter dem Absperrband am Hang des 2739 Meter hohen Roche de Mio öffnet sich eine andere Welt. Ein weißer Abgrund unpräparierten Schnees. Krasse 50 Grad Neigung. Keine Markierungen. Kein Gedrängel. Nur man selbst und der Berg.
Thierry fährt vor. Linksschwung, Rechtsschwung. Zwischen den engen Felshängen ziehen die Ski tiefe Bahnen ins Weiß. „Den Schnee entjungfern“ hat Schlagerstar und Skiweltcupsieger Hansi Hinterseer das mal beschrieben. Nicht jeder Sänger ist ein Poet.

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Gute 100 Meter tiefer öffnet sich die Schlucht auf ein Plateau. Orientieren, Durchschnaufen – und Staunen. Vor einem entfaltet sich ein 180-Grad-Panorama der Alpen. Rechts der Bellecóte-Gletschter, eine mehr als 3400 Meter hohe Wand aus Stein und Eis, am Horizont, umweht von einer einzelnen Wolke, thront majestätisch der Mont Blanc, Europas höchster Gipfel.
Das wuselige Skigebiet La Plagne mit seinen 74 Liften und Seilbahnen liegt nur einen schallschluckenden Hang entfernt, fühlt sich aber meilenweit weg an. Statt Studenten beim Aprés-Ski hört man einen einzelnen Vogel kreischen, statt Skischülern fegt hier der Wind vorbei. Weshalb Thierry auch kein bisschen erstaunt ist, dass sich immer mehr Menschen fürs Freeriden interessieren. „Gerade Städter suchen die Ruhe“, hat Thierry beobachtet. „Man ist hier einfach mehr in der Natur.“ Wenn man genau hinhöre, vernehme man hier draußen sogar ihren Geist. Wie der klinge? Thierry lächelt still.

© Moritz Honert
Dann scannt er den Schnee. Fährt parallel zum Hang langsam 50 Meter weiter nach links. Wonach er genau schaut? Für den Stadtmenschen unklar. Dann bleibt er stehen: „Hier ist sicherer“, sagt er.
Ach ja, stimmt. Angesichts der Schönheit der Landschaft hat man fast die andere Sache vergessen, die bezüglich des Off-Piste-Fahrens auch nicht schwer zu erklären ist: Sich abseits präparierter Routen zu bewegen ist potenziell lebensgefährlich.
Daran erinnert der rollende Schnee, der einen ein paar Schwünge weiter auf dem Weg ins Tal überholt. Die paar Schneebälle sind nicht schlimm, doch einige mehr davon, und man hat eine Lawine. Und damit ein Problem. Allein in Frankreich kamen in der vergangenen Saison mehr als 20 Menschen durch rutschende Schneemassen ums Leben. Ende Januar, Anfang Februar starben in einer Woche acht Menschen im Schnee.

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Sich mit solchen Sorgen lange aufzuhalten, dazu hat man am Hang aber gar keine Gelegenheit. Verführt Abfahrt zum Geschwindigkeitsrausch, geriert sich Off-Piste als mentale Übung. Halb Geschicklichkeits-, halb Schnitzeljagd. Statt Adrenalindauerfeuer ein Balanceakt unter erschwerten Bedingungen. Kann man auf der Piste seine Bögen machen, wo und wie man will, gibt abseits davon der Berg vor, wo es lang geht. Versucht man, dagegenzuarbeiten, tja, dann gewinnt halt der Stärkere.
Schließlich erreichen wir das Tal, stehen unten an der Piste und blicken zurück. Die Wand da oben sind wir gerade runter? Schon ein bisschen irre. Angesprochen auf das Risiko, sagt Thierry: „Das besteht natürlich. Aber man kann Vorkehrungen treffen.“ Wichtigste Regel: „Wenn man keine Ahnung hat, nicht allein losziehen!“ In jedem Fall: Peilsender mitnehmen, sich bei der Bergwacht abmelden, die regelmäßig Kurse für den Gebrauch der walkmangroßen Geräte anbietet. Auch Thierry trägt einen in einem Holster, genau wie eine Schaufel im Rucksack. Wer von Schneemassen überrollt wird, hat in den ersten 15 Minuten eine Überlebenswahrscheinlichkeit von 90 Prozent. Danach geht es rapide abwärts. „Außerdem gibt es einen täglichen Lawinenbericht“, sagt Thierry. „Den zu lesen, schade natürlich nicht.“

© Moritz Honert
Verfasst hat ihn Benjamin Roumier. Der 41-Jährige ist einer von zwei Nivologen, also Schnee-Experten, in La Plagne. Mit Skihose, Karohemd, Dreitagebart und reichlich Funktechnik an der Weste kniet er früh an einem Freitag neben der Piste oberhalb des Ortsteils Plagne Soleil, wo holzverkleidete 70er-Jahre-Retro-Hotel-Riegel dominieren, und räumt Metallstangen aus einem Rucksack.
Jeden Morgen ist er unterwegs, um das Lawinenrisiko einzuschätzen. Fünf Stufen gilt es zu unterscheiden. Von „gering“ über „mäßig“, „groß“, „sehr groß“ bis „extrem“. Stufe eins und zwei decken zusammen etwa 70 Prozent der Wintersporttage ab. Bei Stufe fünf, die extrem selten vorkommt, drohen ganze Dörfer verschüttet zu werden. Am hakeligsten ist Stufe drei. „Optimale Routenwahl und Anwendung von risikomindernden Maßnahmen sind nötig“, lautet die technische Definition. Die Hälfte aller Lawinenopfer gibt es bei diesen Bedingungen, weil viele Leute ihr Können über- und das Risiko unterschätzen.
„Die Stufen zu berechnen ist kompliziert“, gibt Roumier zu, was man ihm gerne glaubt, als er anfängt, die Variablen durchzudeklinieren. Ist der Unterschied zwischen dem Druck an der Oberfläche und dem weiter unten zu groß: fragiler Schnee. Wenig Schnee und große Kälte: fragiler Schnee. Zu wenig Kälte in der Nacht und dann zu viel Sonnenschein am Tag: fragiler Schnee. Gar kein Neuschnee aber viel Wind: auch ein Problem. Es ist kompliziert. „Im Zweifelsfall müssen wir halt sperren“, sagt Roumier.

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Während er redet, hat er die Metallstangen mit schnellen Handgriffen zu einer einzelnen zusammengeschraubt und stellt sie senkrecht auf die Schneedecke. An der Seite ist ein Zentimetermaß, am oberen Ende ein Gewicht, dass Roumier nun immer wieder fallen lässt und überprüft, wie weit es die Stange in den Schnee treibt. Am Anfang geht das sehr langsam, dann sehr schnell. Der erwähnte Druckunterschied. Tiefe, Dichte, Masse und Temperatur notiert Roumier mit Bleistift auf einem Klemmblock. Informationen, die er später in eine Datenbank eingeben und in Grafiken umsetzen wird. Gibt es da keine App? „Sie arbeiten dran“, sagt er.
Die Daten, die Roumier und seine Vorgänger über die Jahrzehnte erhoben haben, geben allerdings weniger Anlass zum Lachen. „Schneefall war schon immer unregelmäßig“, sagt Roumier. „Aber die Temperaturen steigen kontinuierlich. Seit 2000 rapide.“ Für die Lawinengefahr sei das nicht so entscheidend, für die Zukunft der Skigebiete allerdings schon. „Viele, die tiefer liegen als La Plagne mit 2000 Meter, werden vielleicht in zehn Jahren nicht mehr existieren“, sagt Roumier, während er nun mit einem Spaten die Metallstange freilegt und ein 30 mal 30 Zentimeter großes Quadrat in die entstandene Abbruchkante sägt. Dann legt er seinen Spaten drauf und klopft. Erst aus dem Handgelenk. Hält. Dann aus dem Ellbogen. Beim zweiten Mal bricht ein bierkastengroßes Stück heraus. Das kommt später unters Mikroskop.

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Schnee, auch das lernt man bei Roumier, hat deutlich mehr Erscheinungsformen als die sternförmigen Kristalle, die vom Himmel fallen. Druck und Temperatur formen unterschiedlichste Gebilde. Aus Sicht der Lawinenforscher kann man vereinfacht sagen: eckige, an Salz erinnernde Formen sind eher gefährlich, splitteriger oder kugelige Gebilde eher stabil. Und heute? Roumier klemmt sich das kleine Mikroskop vors Auge. „Irgendwo zwischen kugelig und splitterig.“
„Lawinenstufe 1 für den Morgen stand im Lawinenbericht“, sagt Thierry auf dem Weg zur nächsten Piste. Über Schnee redet der Skilehrer gern und lange. „Siehst du den glänzenden da hinten?“, fragt er und zeigt auf einen Hang. Eher schlecht zum Fahren. Zu nass. „Der matte da drüben“, er deutet auf einen anderen Berg, „viel besser.“
Off-Piste-Fahren ist auch eine Jagd nach idealen Bedingungen, erklärt er. Eine Route, die zu einem Zeitpunkt gut befahrbar ist, kann 20 Minuten später, wenn sich der Sonnenstand und die Temperatur verändert haben, schon nur noch schlecht passierbar sein. Aber der Schnee ist nicht nur entscheidend, wann man welche Pisten überhaupt fahren kann, sondern auch wie.
Während man auf den präparierten Strecken die Ski kantet, bringt einen das im Gelände mitunter gerade zu Fall. Der Trick ist dann, die Skier ganz flach zu stellen und einfach der Drehung des Oberkörpers folgen zu lassen. Das Problem: Man kann das oft nicht sehen, sondern muss es spüren. Das geht aber nur mit Erfahrung und kostet im schlimmsten Fall ein verdrehtes Knie. Noch ein Grund, warum man nicht allein in unbekanntes Gelände soll.
Am Ende eines schmalen Ziehweges, bei dem es rechts und links ein Dutzend Meter hinab in die Tiefe geht, steht Thierry auf einer Bergkuppe. Sein Blick geht in die Ferne. Still ist es. Kurzes Innehalten vor dem nächsten Hang, der sich vor einem ausbreitet. Weißer Schnee, schwarzer Fels, blauer Himmel. Der Schnee knirscht unter den Skiern, der Atem mischt sich mit dem pfeifenden Wind. Ansonsten? Kein Geräusch. Gar nichts.
„Hörst du ihn jetzt?“, fragt Thierry mit geschlossenen Augen. „So klingt er.“
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