
© Christophe Jacrot
Wer will schon im Schnee Urlaub machen?: Zum Beispiel dieser französische Fotograf
Sind Winterferien überhaupt Urlaub oder doch nur Überlebenstraining auf technisch hohem Niveau? Die Bilder von Christophe Jacrot helfen bei der Wahrheitsfindung.
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Es lässt sich nicht leugnen: Der Winter steht vor der Tür. Die Temperaturen sinken, die Berliner Sonne schaltet in ihren Kellermodus. Sechs Monate Grauzeit stehen bevor, unterbrochen vielleicht von einer Flucht in wärmere Gefilde mit höherer Vitamin-D-Versorgung. Niemand fährt im Winter weg, um bloßen Schnee zu genießen. Oder? Ferien in der kalten Jahreszeit haftet etwas Zweckdienliches an: sich gegen die Elemente mit dem ganzen Körper und mit vollem Einsatz zu stemmen. Sind Winterferien überhaupt Urlaub oder doch nur Überlebenstraining auf technisch hohem Niveau?
Falls dem so ist, nehmen nur etwa ein Drittel aller Deutschen daran teil. 14 Millionen Menschen machen sich laut Statistik dann auf den Weg, die meisten fahren Richtung Süden, nach Österreich, wo sie schneebedeckte Berge, eine verlässliche Infrastruktur und bezahlbare Preise vermuten. Diese Masse steht allerdings einer Mehrheit von 68 Prozent gegenüber, die im Sommer verreisen. Sonne und Wasser triumphieren gegenüber Wolken und Matsch. Der Sommer ermöglicht Spontanität, sich dort niederzulassen, wo es gerade schön ist. Im Winter stundenlang im Tiefschnee hocken, um den Lauf der Dinge zu verstehen? Sehr doofe Idee für jede Lunge.
Wer ins Weiße will, versteht oft Schnee als Medium – für seine verzweifelten Versuche, auf Brettern Kurven in die weiße Oberfläche zu ritzen und dabei elegant auszusehen. Gelingt etwa 20 Prozent. Der Rest der Skitouristen purzelt Pisten herunter, perplex, permanent und potenziell tollpatschig, eigentlich nur dem Gesetz der Schwerkraft folgend: Runter kommen sie alle.
Auf der Suche nach der weißen Magie
Daneben existiert diese sehr seltene Spezies von Menschen, die Winter für die schönste Zeit des Jahres hält. Die in verschneite Landschaften aufbricht, um einen Zauber zu entdecken, der anderen verborgen bleibt – vielleicht weil sie dauernd frieren und sich überlegen, wo die Herberge mit den hübschesten Kachelöfen steht. In Gedanken zoomen sie die Bilder vom Storfjord Hotel in Norwegen heran, wo blütenweiße Schaffelle vor schicken Öfen liegen. Oder vom Chedi Andermatt, das sich rühmt, mehr Kamine als Zimmer zu haben, nämlich 200.

© Christophe Jacrot
Der Fotograf Christophe Jacrot gehört zu jener Kategorie von Menschen, denen all diese warmen Gedanken herzlich egal sind. Bei Minusgraden erwacht sein Scharfsinn. Der französische Fotograf macht die weiße Magie unseres Planeten sichtbar für jene Menschen drumherum, die sich fragen, was man zur Hölle bei diesen klirrend-kalten Temperaturen machen soll. Er rammt sein Stativ in den Firn, wenn andere bereits Reißaus genommen haben.
Man kann es wie Jacrot machen und sich ins nächstbeste Flugzeug nach Island setzen. Schroffe Felsen, bezuckert mit Schneeschlieren, manchmal verhübscht mit struppigem Gebüsch oder einer einsamen Kirche, die auf dem Kamm eines Berges die Stellung im Gestöber hält. Ein Besuch auf Island, so lässt sich Jacrot in seinem gerade erschienenen Bildband „Winterland“ zitieren, sei, wie bei der Geburtsstunde der Welt dabei zu sein. Das ist natürlich ein Privileg, mit der harten Währung der Einsamkeit bezahlt.

© Christophe Jacrot
Schneefall macht Landschaften menschenleer, Straßen autofrei. Wer sich danach in seinen Ferien sehnt, nach der totalen Entschleunigung und teilweisen Entsagung (wenig Gesellschaft, keine sinnliche Abwechslung, reine Monochromie in Grauweiß), der findet im Winterurlaub die notwendige Umgebung dafür. Wie jedem Urlaub steht auch diesem eine Investition voran: wattierte Jacken, lange Unterwäsche, zentnerschwere Stiefel. Der Winter ist meteorologisch eine Kapriole, touristisch eine Materialschlacht.
Freizeitaktivitäten mit teurem Preisschild dominieren. Skifahren und Snowboarding, so vermeldet es Google, gehören zu den Hauptgründen, warum Menschen in den Winterurlaub fahren. Bei beiden handelt es sich um Sportarten, deren Anschaffungskosten – sagen wir, im Gegensatz zu einer Badehose für das sommerliche Schwimmbecken – in den mittleren bis hohen dreistelligen Bereich klettern können (und darüber hinaus, wer es darauf anlegt). Erst auf den folgenden Plätzen für Schneeferien rangieren Wellness und traditionelles Essen, relativ am Ende steht: Entspannung in gemütlicher Atmosphäre.
Was bedeutet Gemütlichkeit im Januar? Da scheiden sich die Geister. Wintereinbrüche geben Städten apokalyptische Züge. Muss man mal erlebt haben, wie die Menschen auf Jacrots Fotos, die sich das Schauspiel des Schneegestöbers durch eine Scheibe angucken wie einen guten Blockbuster.
Ein Urlaub, der die Sinne schärft
Und ist es nicht toll, in eines der abgelegenen Bergdörfer zu fahren, deren Umrisse dank Schneewehen kaum noch zu erkennen sind? Ist es nicht schön, in einer Welt, die dauernd messerscharfe Abgrenzungen für alles zu haben scheint, in eine Umgebung zu wechseln, die verschwimmt? Der Winterurlaub schärft die Sinne, indem er die Konturen verwischt. Eine sinnliche Erfahrung, die unserer Wahrnehmung die Grenzen aufzeigt. Man kann eben nicht mehr alles sehen, was vor einem liegt.
Winter ist, das lässt sich von Christophe Jacrot lernen, wenn draußen die Natur ihre harte Seite zeigt. Die Erkenntnis liegt ebenfalls in diesen Bildern: Zeit, sich ihr zu stellen. Geben wir dem Winterurlaub eine Chance!
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