
© Anna Peschke
Sexualpädagogin Madita Oeming zu vermeintlich schockierender Porno-Studie: Kinder brauchen Aufklärung, keine Abschottung!
Eine neue Studie warnt: Immer mehr Kinder und Jugendliche konsumieren Pornos und orientieren sich daran. Sexualpädagogin Madita Oeming kritisiert die Umfrage. Handlungsbedarf sieht sie trotzdem.
Stand:
Jedes Jahr, wenn die Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen ihre Studie zu jugendlicher Pornonutzung veröffentlicht und es entsprechende Schlagzeilen dazu hagelt, muss ich mich als Sexualpädagogin und Wissenschaftlerin ärgern.
Zunächst ärgere ich mich über die „Studie“ selbst, die genau genommen eine Online-Umfrage eines Familien-Marktforschungsinstituts ist. Sie erfüllt dementsprechend nicht die Standards empirischer Forschung, nutzt teils suggestive Fragen und basiert auf einer einfachen Online-Quoten-Stichprobe ohne Kontrolle von Bundesland oder Bildung, die entsprechend diversen Verzerrungen unterliegt. Dass diese schwach designte privatwirtschaftliche Erhebung medienwirksamer ist als solide wissenschaftliche Studien zu diesem Thema, erzählt viel über Netzwerke und Aufmerksamkeitsökonomie.
Noch mehr ärgere ich mich über das Framing der Umfrage, das sich als klassischer Alarmismus zusammenfassen lässt. „Kinder sehen Pornos und richten zunehmend ihre eigene Sexualität daran aus“, verkündet die Landesmedienanstalt in ihrer eigenen Pressemitteilung. Dieser Satz transportiert weit mehr als die tatsächlichen Ergebnisse.
Die zeigen genau genommen, dass knapp ein Drittel der 11- bis 13-Jährigen „schon mal“ einen „Porno (Foto oder Video)“ gesehen hat. Ein Begriff, der in der Befragung übrigens nie definiert wurde, sodass es sich also in der Wahrnehmung der Kinder auch um Sexszenen auf Netflix, doppeldeutige Instagram-Reels oder ein Playboy-Heft an der Tankstelle handeln kann. Insgesamt 10 Prozent in dieser Altersgruppe bejahen, schon mal etwas in einem Porno gesehen zu haben, was ihnen Lust darauf gemacht hat, es mal auszuprobieren. Ob sie das in eigenen ersten Erfahrungen auch umsetzen, wurde genauso wenig abgefragt wie konkrete Praktiken. Während sie damit vielleicht Knutschen, Zusammen-nackt-Sein oder Oralsex meinen, denken wir Erwachsenen vermutlich direkt an Gruppen- oder Analsex.
„Die richtige Einordnung der explizit sexuellen Inhalte gelingt Kindern nicht“, heißt es weiter. Das wird allein daran festgemacht, dass nur 25 Prozent der Befragten den Satz „Die meisten Pornos, die ich online gesehen habe, waren …“ mit „unrealistisch“ beenden. Als würde das automatisch bedeuten, dass die übrigen 75 Prozent sie für realistisch hielten. Dagegen spricht auch, dass nur 13 Prozent sagen, dass sie Pornos lehrreich oder informativ finden. Zudem haben wir keine Ahnung, welche Inhalte sie genau gesehen haben und ob diese nicht auch tatsächlich eine gewisse Realitätsnähe hatten, beispielsweise aus dem Amateurbereich kamen.
Natürlich müssen wir die Ergebnisse und die Problemlage, die sie verdeutlichen, ernst nehmen, aber beim Lesen der Pressemitteilung und der daraus resultierenden Medienberichterstattung bekommt man fast den Eindruck, dass alle 9-Jährigen täglich Pornos ausgesetzt seien und diese ungefiltert nachspielen.

© Rowohlt Polaris
Niemand schreibt über die Befragung: „Über die Hälfte aller Jugendlichen hat noch nie einen Porno gesehen“ oder „Nur 10 Prozent der Jugendlichen sieht regelmäßig Pornos“ oder „Nur 6 Prozent sagen, dass sie Pornos sehen, um negativen Gefühlen zu entfliehen. Das senkt das Risiko, eine Pornonutzungsstörung zu entwickeln“. Auch diese Aussagen wären aus den Ergebnissen abzulesen. Aber alle folgen einem Chor aus Gefahrendiskurs. Die pauschalen, zugespitzten Formulierungen, die pessimistischen Interpretationen und die permanente Wiederholung des Begriffs ‚Kinder‘, obwohl größtenteils Teenager befragt wurden, schüren Ängste.
Das ist kein Zufall, sondern eine rhetorische Strategie. Denn der Auftraggeber verfolgt eine klare netzpolitische Agenda: „Vor dem Hintergrund der erschreckenden Ergebnisse der Studie … muss dem rücksichtslosen Vorgehen der großen Pornoplattformen … in aller Entschlossenheit Einhalt geboten werden“, sagt Tobias Schmid, Direktor der Landesanstalt für Medien NRW. Seit Jahren investiert er viel Energie in das Durchsetzen von Netzsperren und Altersverifikationen.
Wir werden es nicht schaffen, sexuell neugierige und technisch versierte Teenager von Pornos abzuschotten, aber wir können sie dabei unterstützen, diese einzuordnen.
Madita Oeming, Sexualpädagogin
Das ist nicht nur in Sachen Datenschutz und Netzneutralität durchaus diskutabel, sondern vor allem in seiner Effektivität fragwürdig. Das zeigt auch die Studie selbst, in der die große Mehrheit angibt: „Ich habe versucht, die Altersverifikation zu umgehen.“ Es gibt offensichtlich einen jugendlichen Willen, Pornos zu sehen. Und wo ein Wille ist, ist – gerade in digitalen Räumen – auch ein Weg. Die Obsession mit restriktivem technischem Jugendmedienschutz halte ich für fehlgeleitet und nicht zeitgemäß.
Am meisten ärgert mich deshalb die Konsequenz, die aus der Umfrage gezogen wird. Auch ich sehe Handlungsbedarf, aber nicht den, den die Landesmedienanstalt sieht. Ich sehe vor allem einen Bildungsauftrag und wünsche mir Medienpädagogik statt Medienregulierung. Pornokompetenz statt Pornoverbote. Wir werden es nicht schaffen, sexuell neugierige und technisch versierte Teenager von Pornos abzuschotten, aber wir können sie dabei unterstützen, diese einzuordnen. Und wir können ihnen praxisnahe, lustfreundliche und queerinklusive sexuelle Bildung vermitteln, damit sie ihre Wissenslücken nicht mit Pornos schließen müssen. Hier sehe ich uns in der Verantwortung, als Staat, Schule, Eltern.
Die Umfrage der Landesmedienanstalt bestätigt im Großen und Ganzen nur abermals, was wir seit locker zehn Jahren wissen: Pornos gehören zum digitalen Alltag von Jugendlichen, und zunehmend auch schon von Kindern, dazu. Das sind keine neuen Erkenntnisse, sondern eine unbequeme Realität, vor der Politik wie Pädagogik seit Jahren die Augen verschließt. Es wird Zeit, hinzuschauen und zu handeln. Ohne Panik. Ohne wirkungslose Verbote. Und ohne Kinder und Jugendliche zu unterschätzen. Denn die meistern das insgesamt alles besser, als viele von uns ihnen zutrauen. Trotzdem brauchen sie uns.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: