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Nicht bunt genug: Hörsäle.

© PNN / Ottmar Winter

Soziale Herkunft: Universitäten sind nicht durchmischt genug

Wer schafft es an die Uni? Der Soziologe Jürgen Gerhards über die Verteilung von Lebenschancen und die Selbstvergessenheit von Bildungsbürgern.

Welche Gruppe von Menschen hat in Deutschland die besten Chancen, auf eine Universität zu kommen?

Das sind eindeutig die höher Gebildeten: Kinder, die aus Elternhäusern kommen, die selbst einen hohen Bildungsabschluss haben. 8,8 Prozent der Studierenden haben Eltern mit einem Hauptschulabschluss, bei 45,9 Prozent haben die Eltern selbst einen Hochschulabschluss.

Dass die soziale Herkunft – definiert durch den Bildungsabschluss der Eltern – eine so zentrale Rolle spielt beim Zugang zur Universität und bei der Verteilung von Lebenschancen, ist ein großes Problem, wird aber im Diversitätsdiskurs an den Universitäten oft übersehen. Stattdessen konzentriert man sich fast ausschließlich auf die Faktoren Geschlecht und sexuelle Orientierung.

Spielen denn das Geschlecht und die sexuelle Orientierung keine Rolle mehr – herrscht da Chancengerechtigkeit?

Das Geschlecht spielt beim Zugang zur Universität in der Tat keine Rolle mehr. Frauen sind unter den Studierenden ungefähr gleich stark repräsentiert. In den Fächern mit einem hohen NC sind die Frauen sogar überrepräsentiert, weil sie im Durchschnitt bessere Abiturnoten haben. In der Humanmedizin etwa haben wir ein Verhältnis von 60:40 zu Gunsten der Frauen.

Dass sie in technischen Fächern unterrepräsentiert sind, hat weniger mit Ungerechtigkeit und Diskriminierung zu tun als mit ungleichen Vorlieben. Benachteiligung von Frauen gibt es natürlich nach wie vor, vor allem im späteren Lebensverlauf bei den Karrierechancen auf dem Arbeitsmarkt.

Und die sexuelle Orientierung?

Das ist empirisch nicht einfach zu bestimmen, denn die sexuelle Orientierung wird nicht in amtlichen Statistiken erfasst und auch in Umfragen von den Betroffenen oft nicht preisgegeben. Aber selbst wenn man konservativ rechnet, also etwa nur Menschen als homo- oder bisexuell zählt, die im sozioökonomischen Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung angegeben haben, dass sie mit einem Menschen gleichen Geschlechts zusammenleben, kann man feststellen: Homo- und Bisexuelle sind unter den Studierenden nicht unter-, sondern sogar leicht überrepräsentiert.

Bleibt also die soziale Herkunft als Kriterium …

Und der Migrationshintergrund! Das ist der zweitwichtigste Faktor. Wenn man die statistische Wahrscheinlichkeit berechnet, ob ein Mensch an eine Universität gelangen wird oder nicht, dann ist sie am geringsten bei einem türkischstämmigen heterosexuellen Mann aus einem nicht-akademischen Haushalt, am höchsten dagegen bei einer lesbischen Frau aus einem Akademikerhaushalt.

Das hat uns selbst überrascht: dass sich bestimmte Merkmale, die mit Diskriminierung in Verbindung gebracht werden wie „Frau“ und „homosexuell“, nicht etwa negativ aufaddieren, sondern Personen mit diesen Merkmalen unter den Studierenden überrepräsentiert sind.

Dieselben Personen können aber, sobald sie den geschützten Raum der Universität verlassen und in der U-Bahn sitzen oder eine Führungsposition anstreben, doch Opfer von Diskriminierung sein.

Ja, natürlich. Entsprechend ist es wichtig, zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu unterscheiden. Aber was den Zugang zur Universität, auch etwa zu Stipendien anbelangt, sind es andere Gruppen, die benachteiligt sind. Da steht die alte Klassenfrage im Raum, die aber in der aktuellen Debatte über Diversität völlig verdrängt wird.

Jürgen Gerhards ist Professor für Makrosoziologie an der FU Berlin.
Jürgen Gerhards ist Professor für Makrosoziologie an der FU Berlin.

© privat

Bildungsbürgerliche Eltern investieren von Anfang an kräftig in ihre Kinder, schicken sie auf gute Kitas, gute Schulen, ermöglichen ihnen Nachhilfeunterricht und interessante Begegnungen und Erfahrungen. Kinder aus bildungsfernen Schichten tun sich deutlich schwerer, weil sie von Hause aus nicht das gleiche Auftreten, die Redegewandtheit und die Verbindungen mitbringen.

Das ist nicht nur ungerecht, es ist auch eine Verschwendung von Ressourcen: Denn es gehen uns Talente verloren. Und da Bildung nicht nur über den Zugang zu Berufen entscheidet, sondern in vielfältiger Weise die Lebenschancen (Einkommen, Gesundheit, Kontakte) beeinflusst, ist es in vielfacher Weise ungerecht, wenn ganze Bevölkerungsgruppen abgehängt werden.

Wie kann dem abgeholfen werden?

Das ist nicht einfach, denn gerade diese feinen Unterschiede im „Habitus“, wie es der Soziologe Pierre Bourdieu genannt hat, lassen sich schwer steuern. Es braucht mehr Förderprogramme und Stipendien für diese Gruppe. Und die Auswahlkommissionen etwa beim DAAD oder bei der Studienstiftung müssen für dieses Problem stärker sensibilisiert werden, damit sie nicht junge Menschen ausschließen, nur weil sie anders reden oder sich anders verhalten.

Woran liegt es, dass der Faktor soziale Herkunft in den Diversity-Debatten bisher eine untergeordnete Rolle spielt?

Da kann ich nur spekulieren. Ich vermute, das liegt vor allem an der sozialen Herkunft derer, die über Diversity sprechen: Sie stammen meist selbst aus bildungsbürgerlichen Elternhäusern. Ich sehe da eine Selbstvergessenheit, was die eigene Herkunft angeht, und eine Verengung des Blicks.

Jürgen Gerhards (64) ist Professor für Makrosoziologie an der FU Berlin. In der Fachzeitschrift „Leviathan“ hat er einen Aufsatz zur sozialen Herkunft als Diversity-Faktor veröffentlicht.

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