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Frauen statt Männer. Die Mitglieder des Motorradclubs „Curves“ sind, anders als früher oft üblich, alle weiblich.

© Cäthe Pfläging/MC The Curves

Die neue Biker-Generation: Verknallt in das Motorengeräusch

Hells Angels, hässliche Lederkombis, Sexersatz – Motorradfahren hatte lange ein schlechtes Image. Doch jetzt wird es lässig wie Skaten und Surfen.

„Liebe ist das Gefühl, wenn du etwas so sehr magst wie dein Motorrad“, hat der Journalist und Schriftsteller Hunter S. Thompson gesagt. Und er hatte recht. Ich spüre es, ich fahre selbst. Meine Honda NC750S, ein rot-weißes Einsteigermodell, schafft maximal 170 Kilometer pro Stunde, bergab 175. Das ist nicht schnell für ein Motorrad. Es sieht auch nicht besonders schön aus.

Aber darum geht es mir nicht: Ich bin verknallt. In die Beschleunigung. In das Motorengeräusch. In die Fliehkräfte während einer schnellen Kurve. Motorradfahren zwingt mich zu vollkommener Konzentration auf den Moment. Ich warte dann auf nichts. Ich denke nicht an gestern oder morgen, bin ganz bei mir.

Es ist das ideale Verkehrsmittel. Jedenfalls in meiner Situation: Ich bin 30, habe keine Kinder, alles, was ich zur Arbeit brauche oder im Supermarkt einkaufe, passt in einen Rucksack. Das Motorrad ist mein Rennrad, nur dass ich damit auch 300 Kilometer in zweieinhalb Stunden zurücklegen kann.

„Gib dein Geld für was Schönes aus“

Ich habe mich vor drei Jahren bei der Fahrschule angemeldet, weil ich was für mich wollte, etwas, das ich ganz allein machen kann. Und genau das habe ich im Motorradfahren gefunden. Doch plötzlich merkte ich: Ich bin damit nicht allein, sondern unbewusst Teil eines Trends geworden.

Denn es tut sich was unter den Bikern. Das Motorrad wird zum Lifestyle-Objekt. Das Motorrad wird zum Moderad.

Mehr als 16 Millionen Deutsche haben inzwischen einen Führerschein dafür, im Jahr 2006 waren es nur elf Millionen. 2008 machten noch rund 179 000 Menschen in Deutschland die A-Lizenz, 2016 waren es schon 233 000. Die Zahl der zugelassenen Krafträder steigt ebenfalls stetig an, 2017 waren es 4,31 Millionen, bis April dieses Jahres bereits 4,37.

In meinem Freundeskreis fährt niemand, die meisten fanden die Idee, die A-Lizenz zu machen, saublöd. „Gib dein Geld für was Schönes aus“, haben sie gesagt, und „viel zu gefährlich, du fährst schon so schlecht Auto“. Ich kann meine Freunde verstehen.

Born to be wild

Motorradfahren hatte lange ein Imageproblem, die Vorurteile halten sich bis heute. Extrem gefährlich, Hobby für alte weiße Männer, Sexersatz. Zum Beispiel der Film „Easy Rider“ von 1969, ein 95-minütiges, kitschiges Musikvideo: Da knattern zwei maulfaule Typen auf chromglänzenden Chopper-Motorrädern durch nordamerikanische Wüsten, immer geradeaus, Sonnenbrillen auf, natürlich keine Helme. Manchmal grinst Dennis Hopper schief, manchmal knurrt Peter Fonda irgendwas, aber der Zuschauer weiß nicht, was er sagt, denn er hört nur Steppenwolf singen, „Born to be wild“: Get your motor runnin’, schmeiß’ den Motor an, head out on the highway, lookin’ for adventure, ab auf den Highway, such’ nach Abenteuern.

Mal richtig ausbrechen, breitbeiniges Outlawtum, auf dem Sozius die Lady, alles easy, Rider, alles free. Das war noch Ausdruck des rebellischen Zeitgeists damals, 1969: Woodstock, Hippies, Oberlippenbärte, Koteletten bis zum Unterkiefer. Zum Glück ist das vorbei.

Es ist ganz abgesehen vom Zeitgeist natürlich auch ein gruseliger Gedanke, einen mit Stars-and-Stripes bemalten und verchromten Chopper durch die Wüste zu fahren. Keine Kurven, nie. Keine Berge, nicht mal Hügel. Riesige Insekten, die einem bei schneller Fahrt ins Gesicht knallen wie Kieselsteine. Monotone Landschaften. Born to be bored.

Weg vom Leder, weg vom Chromglanz

Jeans statt Leder. Die Biker von heute tragen Kapuzenpullis und stylische Turnschuhe. Gesetzlich ist nur der Helm vorgeschrieben.
Jeans statt Leder. Die Biker von heute tragen Kapuzenpullis und stylische Turnschuhe. Gesetzlich ist nur der Helm vorgeschrieben.

© Justin Clark/unsplash.com

Und Motorradfahrer heute? Geschwindigkeitsfreaks auf 300-Stundenkilometer-Schüsseln in geschmacklosen bunten Lederkombis. Kann man so sehen. Brösels Comic-Werner, ständig besoffener norddeutschelnder Azubi. Und natürlich die braven Reiter auf ihren Reise-Maschinen, zwei silberne Koffer am Beifahrersitz, aufrecht im Sattel, gelbe Warnweste und wasserabweisende blaue Gore-Tex-Jacke, A1 im Starkregen, immer rechte Spur. Männerbünde, Hells Angels, Halblegalität und Kloppereien – Easy Rider war langweilig, aber wenigstens sympathisch. Was seid ihr?

„Motorradfahren verändert sich gerade, weg vom Leder, weg vom Chromglanz“, sagt Cäthe Pfläging, als ich sie nach dem Trend frage, von dem ich Teil geworden bin. Die 44-Jährige führt eine Grafikagentur in Prenzlauer Berg und hat „The Curves“ mitgegründet, einen Motorradclub, in den nur Frauen eintreten dürfen.

18 Mitglieder hat er, gemeinsam machen sie Kurventraining und fahren lange Touren. Ein Curves-Mitglied hat das Petrolettes-Festival gegründet, drei Tage Motorrad, Livemusik und Party in Ahlimbsmühle bei Berlin – auch da, nur für Frauen.

„Freiheit, Wind in den Haaren, blablabla“

Früher war das mehr ein Männerding. Aber das ist Quatsch“, sagt Pfläging. „Wir haben ja überhaupt nix gegen Männer, aber wir konzentrieren uns voll auf Frauen.“ Pfläging ist Teil dieser neuen Biker-Generation, die das Motorrad als Gebrauchs- wie als Lifestylegegenstand begreift, den man mit etwas Übung noch selbst umbauen und reparieren kann, eben wie ein Fahrrad. „Bloß kein lautes Statussymbol“, sagt sie. „Wir Biker sehen heute mehr aus wie Skater und Surfer.“

Sie fährt eine Yamaha MT07. Das ist ein reduziertes Motorrad, ein Naked Bike ohne Windscheibe. 68 Newtonmeter auf 6500 Umdrehungen pro Minute, kompakt wie ein Bullterrier, von 0 auf 100 in 3,8 Sekunden, so schnell wie ein Porsche Carrera. Nur ohne Anschnallgurt.

„Freiheit, Wind in den Haaren, blablabla“, sagt sie. „Mir geht dieses Esoterik-Gequatsche auf den Keks.“ Pfläging steuert ihre MT wie ein Fahrrad durch den Berliner Stadtverkehr: Vor roten Ampeln umkurvt sie die wartenden Autos, sie überholt langsame Fahrer spielend, der Fuchsschwanz an ihrem Lenker flattert dabei im Wind. Ihr dabei zuzuschauen, ist ein Spektakel. Eine blonde Frau mit Turnbeutel und Eishockey-Stutzen über den Schienbeinen auf einer 75-PS-Kanonenkugel.

Hang Loose trifft Benzin im Blut

Frauen wie Pfläging sind es, die die neue Lässigkeit im Motorradfahren eingeläutet haben. Jeans statt Lederkombi, halboffene Helme mit Windbrillen, Lederboots, manchmal einfach Sneaker statt Schutzstiefel. Die Modebranche ist längst aufgesprungen: Zum Beispiel die australische Firma Deus Ex Machina, die einen Mix aus Biker- und Surfmode verkauft. T-Shirts in weichen Pastellfarben, Hawaii-Muster, Kapuzenpullis, Truckermützen, bestickte Army-Jacken und Jeans.

Kleidung, die aussieht, als käme ihr Träger gerade aus der Schraubergarage und sei auf dem Weg zum Strand. Im Werbevideo betrachtet man Typen auf Scrambler-Motorrädern, die ihre Surfbretter ans Bike geschnallt haben und den Strand entlangfahren. Und das beobachtet man so inzwischen auch in Berlin, Frankfurt und Hamburg, natürlich ohne die Surfbretter: Hang Loose trifft Benzin im Blut.

Vernünftig ist das nicht, erlaubt schon. In Deutschland ist nur der Helm gesetzlich vorgeschrieben. Wer in T-Shirt und Jeans Motorrad fährt, riskiert jedoch schwerste Verletzungen. Auch klassische Biker-Ausstatter wie Bellstaff oder Vanucci orientieren sich am neuen Look, bieten jetzt Jeans mit Schutzeinlagen und Schutzstiefel an, die vom Sneaker nicht mehr zu unterscheiden sind.

Selbermachen statt kaufen

Schweben durch Brandenburger Alleen. Das Adrenalin von der Geschwindigkeit macht glücklich.
Schweben durch Brandenburger Alleen. Das Adrenalin von der Geschwindigkeit macht glücklich.

© imago/Schöning

Entstanden ist der neue Geist am Strand. Ausgangspunkt in Europa war das „Wheels and Waves“ in Biarritz. Das Festival in Südfrankreich gibt es seit 2012. Etwa 80 Leute trafen sich damals vor ein paar Bretterbuden an der Atlantikküste, um zusammen zu surfen, zu skaten und an ihren Maschinen zu schrauben. Organisiert hatten das Treffen ein paar Typen aus Toulouse, die sich als „Southsiders“ hin und wieder verabredet hatten.

Ein Jahr später kamen 1000 Gäste, dann 3000, schließlich 10 000. Sie brausten auf umgebauten Maschinen heran, also auf ausgeschlachteten Bobbers, frisierten Cafe Racern, auf völligen Schrotthaufen, das Gegenteil von hochmodernen Neufahrzeugen. Selbermachen statt kaufen. Individualismus statt Konformität.

Auch die Hersteller merken das. „Das Motorradfahren war jahrelang verschrien, man hatte die ganz Schnellen oder die Reisenden“, sagt Tim Diehl-Thiele, Marken-Manager bei BMW, Marktführer in Deutschland. Nun verändere sich die Kundschaft. „Auf unsere Messen kommen ganz neue Leute, viel jüngere als noch vor einigen Jahren“, sagt er. „Die Lust am Analogen nimmt zu.“

Die neuen Kunden wollten Maschinen in Retro-Optik und mit moderner Technik: runde Scheinwerfer, sichtbarer Motor. Bikes, die sie individuell verschönern, an denen sie selber herumschrauben können. Oder die zumindest so aussehen.

Born to be Wild als Auslaufmodell

Auf der Suche nach dem Ursprung meines Trends bin ich auf ein Buch gestoßen, bei dem ich mich sofort ertappt fühlte. „Markenmanagement in der Motorradindustrie“ heißt es, verfasst hat es unter anderem Wolfgang Fischer, ein „selbstständiger Berater in der Motorradbranche“, wie er sich beschreibt. Das Buch ist aus dem Jahr 2005 und beschäftigt sich mit der damaligen Branchenkrise, der Untertitel lautet: „Born to be Wild als Auslaufmodell – eine Branche im Generationswechsel.“

Fischer und seine Mitautoren beschreiben darin, wie die Industrie ihre Werbung ändern sollte, damit eine neue Generation, also Leute wie ich, weiter Motorräder kauft. „Situative Konditionierung“, nennen sie das. „Betrachten wir folgendes Szenario“, steht da. „Ein Student verlässt das Universitätsgebäude, befestigt seinen Laptop Case mit einem Klick an der Gepäckbrücke seiner individuell zusammengestellten City Enduro, zieht sich per Klettverschluss die schützenden Nike-Stulpen über die Turnschuhe und die Multifunktionsjacke über das Shirt.“

Werber-Sprech, schließlich ruft der Autor die Hersteller auf: „Ride the Winds of Change!“ Es gehe um ein „Herauslösen des Motorradbegriffs aus antiquierten Anwendungsszenarien.“

Meine Maschine und ich

Vielleicht haben nicht Pfläging, vielleicht nicht das „Wheels and Waves“-Festival, sicher nicht ich und mein Einsteigermotorrad die Szene verändert. Womöglich hat die Industrie einfach unser Bild verändert, ist dieser Surf-Skate-Bike-Mix die Erfindung von Werbung. Vielleicht ist es beides zusammen.

Wie unromantisch, also lieber zurück zum „Easy Rider“-Gefühl. Maulfaule Typen, eine Straße, die Maschine knattert. Das Adrenalin, das bei Beschleunigung durch die Venen schießt. Meine Maschine und ich schweben durch Brandenburger Alleen, Sonnenlicht fällt durch die Blätter der Bäume am Straßenrand. Ich rieche die frisch gepflügte Erde auf den Feldern, atme klare Sommerluft, der Wind zerrt an mir.

Da piekst mich was im Hinterkopf. Wahrscheinlich das Adrenalin von der Geschwindigkeit oder irgendwas anderes, was glücklich macht. Der Piekser wird zu tausend Stecknadeln. Gänsehaut im Kopf.

Und nähme mir jetzt jemand meinen schwarzen Helm ab, sähe er mich selig lächeln wie ein Kind mit drei Kugeln Erdbeereis. Das ist es, das ist mit nichts zu vergleichen. Das ist Liebe.

Max Polonyi

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