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Wo beginnt kulturelle Aneignung?: „In Dreadlocks kann ich kein so großes Vergehen sehen“
Sollten nur Menschen mit Behinderung Menschen mit Behinderung spielen dürfen und nur Afroamerikaner sich mit den Symbolen ihrer leidvollen Vergangenheit kleiden? Der ehemalige Direktor der angesehenen Ernst-Busch-Schauspielschule, Wolfgang Engler, wirbt für einen freieren Umgang mit Identitäten.
Stand:
Herr Engler, Amazon Prime hat für seine Eigenproduktionen kürzlich die Regel erlassen, dass etwa Schwule nur von Schwulen und Behinderte nur von Behinderten gespielt werden dürfen. Wie nehmen Sie das wahr – kann wirklich nur jemand, der eine bestimmte Erfahrung selbst gemacht hat, eine entsprechende Rolle angemessen spielen?
Wenn man nur noch darstellen dürfte, was man selber ist, wäre das sehr limitiert. Es gab immer nur wenig Schauspieler, die selbst schon mal obdachlos waren. Um einen Obdachlosen als Bühnenfigur gut zu entwickeln, kann man aber auf Demütigungserfahrungen aus dem eigenen Leben zurückgreifen. Meiner Ansicht nach sollte es auch weiterhin möglich sein, dass ein Mann eine Frau spielt, eine Frau einen Mann und jemand, der nie im Leben einen Mord begangen hat, einen Mörder. Diese Art, auf eine Reise zu gehen und Dinge zu tun, die man im eigenen Leben nie getan hätte, ist ja genau der Reiz der Schauspielerei als Verwandlungskunst. Einmal ein ganz anderer sein.
Auch außerhalb der Schauspielerei gibt es heute viele Diskussionen um Identitäten. Halten Sie es für eine Banalisierung der Leidensgeschichte afrikanischer Sklaven, wenn sich hellhäutige Europäer Dreadlocks machen?
Keine Frage, es gibt auch einen parasitären Umgang mit fremden Erfahrungen. Da hat die Debatte über kulturelle Aneignung durchaus ihren Platz, dafür zu sensibilisieren. Wobei ich in Dreadlocks kein so großes Vergehen sehen kann. Menschen, die sich solche Frisuren machen, tun dies ja mit einer grundsätzlichen Wertschätzung für die andere Kultur.
Was wäre für Sie ein Beispiel parasitärer Aneignung?
Wenn zum Beispiel Höflinge im 17. Jahrhundert in die Kleidung von Schäfern schlüpften und deren Sprache nachahmten, um sich über sie lustig zu machen. Nicht auszuschließen, dass ein solcher geringschätzender Umgang mit den kulturellen Symbolen anderer auch heute vorkommt. Aber im Großen und Ganzen sind die kollektiven Prägungen und Erfahrungen von Menschen nach meiner Überzeugung kein Privatbesitz, sondern Allgemeingut. Warum soll nicht auch ein europäischer Autor die Leidensgeschichte von Menschen des globalen Südens erzählen? Es geht doch darum, über kulturelle Grenzen hinweg zu kommunizieren und Erfahrungen zu teilen.
Deshalb wäre etwas mehr Toleranz wieder gut. Die Grundannahme, dass der andere keinen bösen Willen hat und ebenfalls den konstruktiven Dialog will.
Wolfgang Engler
Sollte Europa nicht lieber den Betroffenen den Vortritt lassen?
Wir haben über Jahrhunderte das Wort geführt, das ist wohl wahr. Im direkten kulturellen Dialog wäre es erst mal an uns, zuzuhören und zu akzeptieren, dass es hier viel Verletzung und Kränkung gibt.
Wir sollen uns verstärkt auseinandersetzen mit fremden Perspektiven, aber bei möglichen Fehltritten nimmt das Wohlwollen tendenziell ab – etwa wenn Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe nach ihrem Herkunftsland gefragt werden, obwohl sie in Deutschland geboren wurden.
Deshalb wäre etwas mehr Toleranz wieder gut. Die Grundannahme, dass der andere keinen bösen Willen hat und ebenfalls den konstruktiven Dialog will. Das würde uns einen Schritt weiterbringen. Anstatt uns wechselseitig Ahnenpässe vorzuhalten, die die Voraussetzungen sein sollen, dass wir überhaupt zu einem Thema sprechen können.
In den Debatten der Identitätspolitik, die mehr Anerkennung für benachteiligte gesellschaftliche Gruppen durchsetzen will, ist der Ton mitunter scharf. Wie nehmen Sie dieses neue Politikfeld insgesamt wahr?
Insgesamt zielt die Identitätspolitik auf eine Verflüssigung unserer sozialen Rollen, hin zu mehr Gleichheit und Transparenz. Mehr Aufmerksamkeit und gegenseitiger Respekt für die identitätsstiftenden Dimensionen des Menschen wie Geschlecht, Nationalität, Sprache oder ethnische Abstammung sollen dazu führen, dass diese Dinge irgendwann nicht mehr über die soziale Stellung bestimmen und in diesem Sinne auch unwichtiger werden. Damit steht die Identitätspolitik in der Tradition jener emanzipatorischen Bewegungen, die schon auf die französische Revolution zurückgehen, und ist insofern eine erfreuliche Sache.

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Aber offenkundig gibt es eine Kehrseite. Auch Nationalisten sind wie besessen vom Thema Identität.
Richtig, Identitätspolitik läuft immer Gefahr, identitär zu werden, also das Nichtidentische komplett auszuklammern. Sie sehen es an der sogenannten Identitären Bewegung, die unter diesem beschönigenden Begriff rechtsextreme Politik betreibt. Der Extremfall identitärer Politik will das eigene Volk vor Durchmischung bewahren und wendet sich gegen die Gatekeeper der öffentlichen Meinung, die es angeblich von innen heraus zersetzen.
Ein Missverständnis von Identität?
Ja, denn zu einer gehaltvollen eigenen Identität kommt man immer nur im Umweg über das, was man nicht ist: das Andere, die Anderen und das Anderssein der Anderen. Indem man versucht, sich in sie hineinzuversetzen und sich dabei auch ihrem Urteil auszusetzen, was durchaus Zurückweisung und Kränkung beinhalten kann. Aber nur dadurch baut sich so etwas wie eine Identität überhaupt auf, die nicht nur „ich gleich ich“ oder „wir gleich wir“ sagt.

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Hat auch die emanzipatorische Identitätspolitik eine Tendenz, das Trennende zu betonen, nur eben in größerer Vielfalt?
Diese Gefahr sehe ich. Und es gibt noch eine andere. Identitätspolitik ist heute stark auf die kulturellen Phänomene ausgerichtet, während sie große soziale Fragen unbearbeitet lässt. Dadurch ist sie bündnisfähig mit einem progressiven Neoliberalismus. Ein Unternehmen wie Amazon tut viel, um Diskriminierung zu vermeiden, und erlässt Regelungen, die die Forderungen der Identitätspolitik erfüllen – etwa die oben von Ihnen genannten Drehvorgaben. Aber Gewerkschaften, ein besserer Kündigungsschutz und faire Löhne werden nicht zugelassen. Denn Identitätspolitik thematisiert nicht primär die Machtverhältnisse zwischen Unternehmern und abhängig Beschäftigten, sondern die privaten Rollen unterhalb dieser Klassenverhältnisse. Dabei hat sie eine Tendenz, all jene auszuschließen, die ihre kulturellen Codes – von korrektem Gendern bis zum richtigen Umgang mit Minderheiten – nicht beherrschen. Es wird zu einem Verhältnis von Insidern und Outsidern.
Identitätspolitik ist ein Spaltpilz der Linken, Befürworter und Kritiker stehen einander schroff gegenüber.
Wolfgang Engler
Das entspricht der Kritik der traditionellen Linken, Identitätspolitik sei elitär und schließe große Teile der Bevölkerung aus. Werden da nicht berechtigte Identitätsthemen gegen Fragen der sozialen Gerechtigkeit ausgespielt?
Identitätspolitik ist ein Spaltpilz der Linken, Befürworter und Kritiker stehen einander schroff gegenüber. Identitätspolitische und soziale Fragen programmatisch miteinander zu verbinden, gelingt deshalb nicht, und das schwächt die Linke ganz erheblich. Dabei könnte sie gerade dadurch insbesondere gegenüber den Grünen punkten.
Beim Gendern der Sprache geht es sehr wohl um die Berücksichtigung großer Gruppen, die bisher benachteiligt wurden und sprachlich unberücksichtigt blieben.
Ich persönlich habe bisher immer Mittel und Wege gefunden, klarzumachen, an wen ich meine Äußerungen und Texte adressiere – ohne dabei auf das Gendern der Sprache zurückgreifen zu müssen. Aber ich bin da unverkrampft. Es ist für mich kein Problem, wenn sich Menschen dieser Methoden bedienen. Auch wenn mich das hässliche Schriftbild durchgegenderter Texte abstößt.
Ist Sprache trotzdem gut geeignet als Medium der gemeinsamen Bewusstmachung gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten?
Dieses Argument kann ich nachvollziehen. Mit der Einschränkung, dass wir es auch beim Gendern meines Erachtens mit derselben sozialen Trägergruppe zu haben, die dafür eintritt und andere damit ausschließt.
Es muss doch darum gehen, sich Fremderfahrungen anzueignen, zu denen man sonst keinen Zugang hätte. Wie sonst sollen wir uns in die Lage der anderen versetzen und dann empathischer miteinander umgehen?
Wolfgang Engler
Wer schließt da wen aus?
Nun ja. Aus meiner Sicht handelt es sich bei denen, die in diesen Diskursen das Wort führen, um einen bestimmten Teil der ökonomisch Beherrschten, die sich – wohl weil sie die Hoffnung aufgegeben haben, den Kapitalismus reformieren zu können – auf das Feld der Identitätspolitik geworfen haben. Dort bewegen sie sich sehr gekonnt und streben nach Hegemonie. Anderen fällt es dadurch immer schwerer, auf Augenhöhe zu kommunizieren. Das gehört mit ins Bild.
Haben Sie Verständnis, wenn es heißt „Was darf man denn heute noch sagen ...“ ?
In der Tat ist es so, dass man in diesen Debatten, selbst wenn man mit guten Absichten hineingeht, schnell aneckt und sich den Vorwurf einhandelt, andere Identitäten zu verletzen. Aber es muss doch darum gehen, sich Fremderfahrungen anzueignen, zu denen man sonst keinen Zugang hätte. Wie sonst sollten wir uns in die Lage der anderen versetzen und dann empathischer miteinander umgehen? Das stößt natürlich an Grenzen. Aber gerade deshalb sollte man die Menschen dazu ermutigen und nicht entmutigen.
Von dem amerikanischen Soziologen Erving Goffman stammt der Satz „wir alle spielen Theater“, mit dem er deutlich machte, dass Menschen im Alltag eine Vielzahl sozialer Rollen spielen. Was ist dann unsere wahre Identität?
Das ist komplex. Es gibt eine personale Identität, die etwas mit unserer sozialen Grundausstattung zu tun hat, es gibt eine funktionale Identität, für die etwa der Beruf wichtig ist, und es gibt höherstufige Identitäten, insofern wir auch Franzosen oder Deutsche sind. Sogar transnationale Identitäten gibt es in Ansätzen. Sie konnten es während der WM sehen, als Menschen im gesamten arabischen Kulturraum die Siege der marokkanischen Mannschaft feierten. Es sind mehrere Schichten, die unsere Identität bilden.

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Gibt es so etwas wie einen Wesenskern dahinter? In der Werbung und in Ratgebern wird man oft aufgefordert: Sei ganz du selbst.
Das ist die zentrale Forderung unserer Zeit, aber sie erscheint mir nur begrenzt sinnvoll. Denn unsere Wirklichkeit besteht schon ganz aus diesem Ensemble an Rollen, die wir bespielen – Rollen, in die wir einsteigen und aus denen wir auch wieder aussteigen. Was wir tun können, ist, je nach Lebensphase und Situation herauszufinden, welche soziale Rolle für uns die wesentliche ist und welche eher nachgeordnet sind.
Wie ein Regisseur?
Das wäre eine geeignete Metapher. Auch der muss mal einen Schritt zurücktreten und schauen, ob das Rollenrepertoire noch stimmig ist. Der Anspruch, ganz in einer bestimmten Rolle aufzugehen, sich voll damit zu identifizieren und dabei authentisch rüberzukommen, ist eigentlich eine Überforderung. Dieser Erwartungsdruck besteht heute ja selbst bei beruflichen Tätigkeiten, die dafür wenig Anknüpfungspunkte bieten.
Kaum etwas erscheint heute erstrebenswerter, als eine Identität zu entwickeln – und seine Antennen auszufahren, ob man darin gekränkt wird.
Wolfgang Engler
Was passiert, wenn Menschen dem nachkommen und sich zu sehr mit einer ihrer Rollen identifizieren?
Sie verlieren die nötige Distanz zu dem, was sie tun. Und das kann dazu führen, dass sie Interessen von Außenstehenden elementar verletzen. Sie sind nicht mehr in der Lage, deren Perspektive einzunehmen. Nehmen Sie die Finanzkrise, in der übereifrige Investmentbanker so weit gegangen sind, dass es schon geschäftsmäßiger Betrug war. Hier haben sich Menschen eindeutig zu sehr mit der Rolle, die sie innerhalb des Unternehmens spielten, identifiziert.
Plädieren Sie für die Verweigerung, öfter auch mal nicht man selbst sein wollen?
Wenn uns das gelänge, wäre es ungeheuer entlastend. Distanz, Abstand, das Heraustreten aus der eigenen Rolle, sich dem Anderssein der anderen zuwenden, versuchen, sich selbst auch mit deren Augen zu sehen. In gewisser Hinsicht waren die Voraussetzungen dafür früher sogar besser. Man hat eine soziale Rolle einfach übernommen und gespielt, sich ansonsten aber reserviert dazu verhalten. Heute haben sich die Identitäten stark formiert und es ist schwer, aus diesem Spiel wieder herauszukommen. Bis in die 70er Jahre hinein kam das Stichwort „Identität“ in den großen Wörterbüchern kaum vor, dann hat es diese Karriere gemacht. Kaum etwas erscheint heute erstrebenswerter, als eine Identität zu entwickeln – und seine Antennen auszufahren, ob man darin gekränkt wird.
Zu viel Beschäftigung mit sich selbst und zu wenig Sinn für Gemeinschaft?
Der große Soziologe des 20. Jahrhunderts, Norbert Elias, sprach von der Ich-wir-Balance. Mir scheint, dass die sich heute stark in Richtung des Ich verschoben hat. Was wiederum gut ins Konzept des progressiven Neoliberalismus passt.
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