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Angekommen. Julia Likhacheva, 77, hat ihr Leben lang Fragen zu ihren Vorfahren gestellt.

© Georg Moritz

Ahnenforschung: Zusammenbringen, was zusammengehört

Erst war es nur ein Hobby, jetzt ist es sein Beruf. Der Berliner Ahnenforscher Marc Jarzebowski lüftet Familiengeheimnisse, geht Legenden nach. Und manchmal schließt sich auch ein Kreis.

Die drei weißen Kerzen sind weit gereist, 4400 Kilometer, von Nowosibirsk nach Berlin. Auch für die Frau, welche die Kerzen nun aus einem Tuch wickelt, war es ein langer Weg. Fast ihr ganzes Leben hat Julia Likhacheva nach ihren Vorfahren gesucht, jetzt, mit 77 Jahren, steht sie auf dem Domfriedhof in Berlin-Wedding, Grabstätte ihres Großvaters. Begleitet auf ihrer Reise in die Vergangenheit wurde sie von Tochter und Enkelin. Ihnen gibt sie zwei der Kerzen, die dritte behält sie selbst in der Hand.

Drei Kerzen, drei Generationen am Grab ihres Vorfahren. Es ist eine Art Familientreffen und eine deutsch-russische Geschichte, die hier erzählt wird. Eine, die von den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts handelt, von Verfolgung, Verlust und der hartnäckigen Suche nach den Wurzeln. Wo kommen wir her?, diese Frage wurde in der Familie Likhacheva von den Alten an die Jungen weitergegeben, und der, der die Antwort schließlich fand, steht an diesem kalten Morgen ein bisschen abseits und friert in seinem dünnen Jackett. Laut seiner Visitenkarte ist Marc Jarzebowski Ahnenforscher – den drei Frauen zufolge jedoch viel mehr als das. Für sie ist er einer, der zusammenbringt, was zusammengehört, auch noch post mortem.

Im Leben der anderen kennen sich Ahnenforscher gut aus, über sie selbst weiß man wenig. Ahnenforscher, das ist kein Beruf, für den man Kurse belegen kann oder zu dem es ein Lehrbuch gibt. Auch Zahlen darüber, wie viele Menschen in Deutschland eigentlich als Ahnenforscher arbeiten, fehlen. Dafür ist, das stellt Marc Jarzebowski immer wieder fest, sein Beruf die perfekte Gesprächseröffnung. Kaum hat er auf einer Party gesagt, was er so macht, beginnen die Menschen zu erzählen. Von der alten Familienbibel, die sie gefunden haben, und vom Großonkel, über den die Familie schon so lange rätselt.

Marc Jarzebowski, 44, hat mal Geschichte studiert, genau wie der Vater und Großvater. Jahrelang arbeitete er an der Uni, und als in seinem Leben die Zukunft Gestalt annahm, in Form eines Sohnes, wuchs in ihm der Wunsch nach dem Wissen um die eigene Vergangenheit. Er erforschte die Geschichte seiner Familie, daraus entstand eine Geschäftsidee: Warum diesen Dienst nicht auch anderen Leuten anbieten? Auf den passenden Namen für sein Unternehmen kam er, als er seinen Sohn im Jahr 2004 im Kinderwagen durch Sanssouci schob und dort diese seltsamen Bäume sah, deren Wurzeln nicht nur nach unten wachsen, sondern auch aus der Erde heraus. Seitdem heißt Jarzebowskis Ein-Mann-Betrieb Taxodium, zu Deutsch: Sumpfzypresse.

Jarzebowskis Ein-Mann-Betrieb heißt Taxodium - Sumpfzypresse

Rund 100 Anfragen hatte Jarzebowski seitdem, viele aus Übersee. Manch einer hofft, dass er berühmte Vorfahren hat, so wie der Mann namens Mundz, der fragte, ob er nicht vielleicht mit dem Maler Edvard Munch verwandt sei. Meist geht es aber um Familiengeheimnisse und -legenden. Neulich zum Beispiel meldeten sich Amerikaner. Ob es wahr sei, dass ihr deutscher Vorfahr seine Frau verlassen und sich mit der Dienstmagd nach Amerika abgesetzt habe? Ein anderer bat den Historiker um Hilfe, weil er einen Siegelring vererbt bekommen hat und deshalb vermutet, dass einer seiner Vorfahren geadelt worden ist. Inzwischen umfasst der Stammbaum, den Jarzebowski für ihn erstellt hat, an die 100 Personen – der Siegelringträger war noch nicht dabei. Außerdem sucht Jarzebowski nach einem, der ein bekannter Musiker im Berlin der 20er Jahre war. So zumindest erzählt man es sich in seiner Familie. Doch bislang hat Jarzebowski ihn in den Adressbüchern jener Zeit nur als Maschinenbauer verzeichnet gefunden. Und dann gibt es da noch Willi Hentschke.

Normalerweise sind es die Eltern, die Fotoalben ihrer Kinder anlegen. Von der Zahnlücke über die Schultüte bis zum Hochzeitskleid – Seite um Seite sieht man sie größer werden, wachsen und gedeihen. Julia Likhacheva dagegen machte ein Fotoalbum von ihrem Vater, ein Happy End hat es nicht. Auf einem der ersten Bilder sieht man Mann und Frau im Birkenwald, sie sitzen Rücken an Rücken, aber die Köpfe, die wenden sie einander zu. Bequem kann das nicht gewesen sein, aber notwendig wohl, wenn man so verliebt ist, dass man nicht anders kann, als den anderen anzuschauen.

Eine Seite nach dem Foto im Birkenwald sieht man den Mann wieder, weißes Hemd, glänzende Schuhe, Festtagskleidung also und ein Festtagsgesicht, den Grund dafür hält er stolz in die Höhe. Ein kleines Bündel Leben in einer weißen Decke. Auf dem letzten Foto im Album ist der Mann dann allein. Sein Hemd ist nicht mehr weiß, das Haar nicht frisiert. Aufgenommen wurde dieses Bild von Willi Hentschke kurz vor seiner Ermordung in einem Lager.

Willi Hentschke, Todesursache: Magengeschwür

„Mein Vater“, sagt Julia Likhacheva, „ist vom Feuer in die Flammen gekommen.“ Auf Deutsch: vom Regen in die Traufe. Und politisch: von Nazideutschland ins stalinistische Russland.

Julia Likhacheva wuchs allein mit ihrer Mutter Elena auf, erst in Moskau, später in Sibirien. Von ihrem Vater kannte sie jahrelang nur wenige Eckdaten: Willi Hentschke, deutscher Kommunist, 1934 vor den Nazis nach Russland geflohen. Arbeitete in einer chemischen Fabrik, lernte dort Elena kennen, spazierte mit ihr erst durch Birkenwälder und heiratete sie dann. Hatte stets ein Tuch dabei, um seine Schuhe zu polieren, liebte die Dichtung, vor allem Heinrich Heine, und starb viel zu früh. Was damals geschah, erfuhr das Mädchen erst später. Im Sommer 1937, Julia war gerade geboren, klopfte es an der Tür. Im Hausflur standen Männer in Uniform. Es fielen Worte wie deutscher Spion und Staatsfeind, dann führte man Hentschke ab.

Als großen Terror sollten Historiker diese Zeit später bezeichnen – Millionen Menschen wurden damals von den Stalinisten abgeholt und umgebracht. Elena Likhacheva aber klagte nicht, sondern sang ihrer Tochter deutsche Lieder vor. Nach Stalins Tod begab sie sich auf die Suche nach dem, der sie ihr beigebracht hatte. Die Antwort, die sie Ende 1956 von staatlicher Seite erhielt, hat ihre Tochter mehr als ein halbes Jahrhundert später in Berlin dabei. Es ist ein hauchdünner Zettel, die lila Schreibschrift darauf fein säuberlich, als handle es sich um einen Eintrag ins Poesiealbum. Willi Hentschke, Todesdatum: 31. September 1956, Todesursache: ein Magengeschwür. Ein paar Wochen später gab es wieder Post. Der zweite hauchdünne Zettel. Man habe sich im Datum getäuscht, hier die Berichtigung. Willi Hentschke, am 30. September gestorben, Todesursache: weiterhin das Magengeschwür.

Berlin ist ein guter Ort für Studien. Nicht nur wegen der Archive

Glaubt man Menschen, die als Todesdatum zunächst einen Tag angeben, den kein Kalender kennt, noch ein Wort?

Elena Likhacheva zumindest gab die Suche nach Wahrheit auf. Als sie 1991 starb, trat ihre Tochter Julia das Erbe an und stellte im KGB-Büro abermals die Frage, die schon ihre Mutter umgetrieben hatte: Was wurde aus Willi Hentschke?

Monate später bekam Julia Likhacheva den dritten hauchdünnen Zettel, dieses Mal mit neuem Datum und neuer Todesursache. Am 3. November 1937 gestorben. Durch Erschießung. In Butovo nahe Moskau. Dort war eine von Stalins Hinrichtungsstätten. Allein an Hentschkes Todestag wurden dort insgesamt 230 Menschen umgebracht.

Historiker Marc Jarzebowski (o.) konnte Antworten liefern.
Historiker Marc Jarzebowski (o.) konnte Antworten liefern.

© Georg Moritz

Endlich wusste Julia Likhavecha die Wahrheit. „In meinem Herzen“, sagt sie, „blieb trotzdem ein Loch.“ Sie füllte es mit Dichtung, genau wie ihr Vater, entdeckte den russlanddeutschen Dichter Günter Türk, der unter Stalin inhaftiert gewesen war, und verlegte ihn. Türks Biografie ähnelt der ihres Vaters, mit einem Unterschied: Türk überlebte. „Annehmen, ohne den Kopf abzuschrauben, Essig probieren, ohne zu murmeln“, heißt es in einem seiner Gedichte. „Vielleicht“, sagt Julia Likhacheva, „hätte mein Vater ja ähnlich empfunden.“

Vor einigen Jahren setzte dann ihre Tochter Taissia Kelly die Suche fort. Sie lebt mit ihrem Ehemann in London, und wann immer sie abends im Fernsehen die Sendung „Who do you think you are?“ sah, in der britische Prominente nach ihren Ahnen suchen, dachte sie an ihren Großvater. Vor zwei Jahren dann begleitete sie ihren Mann zu einer Konferenz in Potsdam. Kurz vor der Heimreise machte sie einen Termin mit Marc Jarzebowski. In einer Pizzeria nahe dem Flughafen Tegel gab sie ihm, was sie hatte. Drei Sterbeurkunden und eine Frage: „Wie Willi Hentschkes Leben endete, wissen wir inzwischen. Aber wo hat es begonnen?“

Je mehr sich Großfamilienbande auflösen, desto weniger wissen Menschen über ihre Familien

Um das zu beantworten, ging Jarzebowski an seinen Arbeitsplatz – und das sind sämtliche Archive und Bibliotheken dieser Stadt. Etwa ein Dutzend Menschen trifft er dabei immer wieder. Genau wie er sitzen sie stundenlang an Büchern und Mikrofiche-Lesegeräten, und so geht Jarzebowski davon aus, dass es sich um Kollegen handelt. Respektvoll nickt man einander zu, gesprochen wird nicht – in einem Archiv herrschen eben andere Gepflogenheiten als in einer Großküche. Nur einige gibt es, die laufen schneller und arbeiten hektischer, haben nicht diese gemessene Würde, die der jahrelange Umgang mit der Vergangenheit lehrt. Wahrscheinlich Erbenermittler, sagt Jarzebowski – sie machen sich aufgrund von Mitteilungen in Amtsblättern auf die Suche nach Erben, arbeiten also auf eigene Rechnung, bis sie jemanden gefunden haben, von dem sie sich eine Kommission erhoffen. Jarzebowski macht so etwas nie, er arbeitet nur mit Auftrag, zu einem Stundensatz von etwa 55 bis 65 Euro. Das Geschäft läuft gut. Je mehr sich Großfamilienbande auflösen, desto weniger wissen Menschen über ihre Familien. Außerdem, sagt Jarzebowski, sei Berlin ein guter Standort. Zum einen wegen der vielen Archive: sogar das Auswärtige Amt hat sein eigenes. Zum anderen weil hier in der Stadt das Leben von etlichen Menschen begann, die dann fliehen mussten. Zum Beispiel vor den Nazis wie Willi Hentschke.

Um ihm auf die Spur zu kommen, arbeitete Jarzebowski in der Zentral- und Landesbibliothek alte Adressbücher durch und fand als mögliche Anschrift die Burgsdorfstraße 1 in Wedding. Daraufhin fragte er im Standesamt Mitte, ob es eine Geburtsurkunde für einen Willi Hentschke gebe. Nach Monaten kam ein positiver Bescheid. Mit diesem Dokument konnte Jarzebowski im Landesarchiv nach dem Heiratsregistereintrag von Hentschkes Eltern suchen. Zugleich bekam er über die historische Einwohnermeldekartei Informationen über ihre Berufe, Geburts- und Sterbedaten. Um herauszufinden, auf welchem Friedhof Julia Likhachevas Großvater Ernst Robert Hentschke begraben ist, fragte Jarzebowski schließlich bei Gartenbauämtern und kirchlichen Friedhöfen der ganzen Stadt an, bis sich eines Tages die Weddinger Domgemeinde zurückmeldete. Die genaue Grabstelle kenne man zwar nicht, aber der Name Ernst Robert Hentschke, der tauche in den Unterlagen auf.

Und so kommt es, dass Julia Likhacheva an diesem Tag auf dem Berliner Domfriedhof steht und am Tag zuvor zum Geburtshaus ihres Vaters ging. Ein bisschen, sagt sie, habe sie Angst davor gehabt, was sie erwarte. Ein schäbiges Haus vielleicht, Hinweise auf schwierige Verhältnisse. Umso mehr freute sie sich, als sie die Burgsdorfstraße 1 sah. Zwar ist das Haus verfallen und eingerüstet, doch erkennt man den großzügigen Gründerzeitbau immer noch. Noch glücklicher war Julia Likhacheva, als sie in den Straßen ringsum spazieren ging. Dort stehen viele alte Häuser noch, und so sah Julia Likhacheva die Fassaden, die ihr Vater schon vor fast einem Jahrhundert sah. Auch sonst hat Julia Likhacheva das Gefühl, dass Berlin sie willkommen heißen will. Ganz oben auf dem Dach der Burgsdorfstraße 1 wächst eine kleine Birke. Ganz wie auf dem Foto, auf dem ihr Vater so glücklich war.

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