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Gesundheit: Altenpflege: Der verheimte Mensch

Der größte Wunsch alter, chronisch kranker oder behinderter Menschen ist es, möglichst selbstbestimmt zu leben, ihre Autonomie zu bewahren oder wiederzugewinnen. Aber ein Prozent der deutschen Bevölkerung lebt in Heimen; etwa 140 000, so schätzt man, in Behindertenheimen und 660 000 in Alten- und Pflegeheimen - in guten, durchschnittlichen oder schlechten.

Der größte Wunsch alter, chronisch kranker oder behinderter Menschen ist es, möglichst selbstbestimmt zu leben, ihre Autonomie zu bewahren oder wiederzugewinnen. Aber ein Prozent der deutschen Bevölkerung lebt in Heimen; etwa 140 000, so schätzt man, in Behindertenheimen und 660 000 in Alten- und Pflegeheimen - in guten, durchschnittlichen oder schlechten. Je hilfloser jemand ist, desto mehr läuft er Gefahr, für seine Umwelt nichts anderes zu sein als nur noch ein Pflegefall.

Ruth Schwerdt, Osnabrücker Psychogerontologin und Professorin für Pflegewissenschaft, warnte denn auch, Menschen nur als passives Objekt der medizinischen Behandlung und der Pflege betrachten. Je mehr jemand aktiviert und zum Training seiner durch Krankheit, Behinderung oder Alter beeinträchtigten Fähigkeiten ermutigt werde, desto eher schaffe er es, den ganz normalen Alltag noch oder wieder so selbständig und selbstbestimmt zu bewältigen, wie seine eingeschränkten Kräfte dies erlauben. Wer gefordert wird, der wird zugleich gefördert, wem aber alles abgenommen wird, der verkümmert durch Passivität.

Zufrieden durch Eigenverantwortung

Ruth Schwerdt wies auf Forschungsergebnisse hin, wonach "die Steigerung von Eigenverantwortlichkeit durch Kompetenz fördernde Pflege nicht nur den Gesundungsprozess beschleunigt, sondern auch die Alltagskompetenz und Lebenszufriedenheit der zu Pflegenden erhöht". Die Pflegeforscherin sprach in Erlangen beim 2. Kongress "Medizin und Gewissen" der IPPNW ("Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung"). Der letzte Lebensabschnitt war ein viel besprochenes Thema. Denn die Menschenwürde der Schwächsten ist im Alltag des Sozial- und Gesundheitswesens gefährdet. Wie sehr, das machte die bayrische Sozialministerin Christa Stewens deutlich: "Für eine menschenwürdige Pflege in den Heimen brauchen wir mehr Personal." Die Fachkräfte sind überlastet und müssen oft froh sein, wenn sie eine einfache Satt-und-Sauber-Pflege halbwegs bewältigen.

Der Bonner Gerontopsychiater Rudolf Hirsch sprach von der "alltäglichen Gewalt" gegen alte Menschen in Heimen und Familien. Für sie wurden 14 Krisennotrufe eingerichtet, weil sie oft niemanden haben, dem sie sich anvertrauen können (Berliner Krisendienst, Telefon 39063-10 bis -90). Es gibt zwar Heimgesetze, und Hirsch findet sie gar nicht so schlecht, nur würden sie längst nicht immer eingehalten. Auch würden alte, mehrfach kranke Menschen oft von Akut-Krankenhäusern abgeschoben: ins Heim.

Dass es auch ausgezeichnet geführte Heime gibt, ist unbestritten. Dass aber gute Pflege, ob zu Haus oder im Heim, bald von der Ausnahme zur Regel wird, wagen nur rheinische Frohnaturen zu hoffen. Auf dem Deutschen Pflegekongress in Berlin beschwor Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt kürzlich eine "flächendeckende qualitativ hochwertige Pflege, sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich" für alle Pflegebedürftigen. "Sie und ihre Angehörigen müssen die Gewissheit haben, egal für welches Pflegeheim ich mich entscheide - es ist gut."

Die Prognose der Versorgungsforscher aber lautet: Die Situation kann sich nur verschlimmern. In Erlangen verwies die Pflegewissenschaftlerin Sabine Bartholomeyczik (Frankfurt/M.) auf die Folgen des neuen pauschalen Krankenhaus-Vergütungssystems: Die Patienten würden künftig so früh wie irgend möglich entlassen werden - wer weiß, in welchem Zustand. Dieses System "dürfte eigentlich keinesfalls eingeführt werden, solange die Versorgung außerhalb des Krankenhauses, vor allem die nicht stationäre Versorgung, dermaßen schlecht funktioniert, wie das der Fall ist."

Warum funktioniert sie eigentlich in anderen Ländern so gut, etwa in Skandinavien? In Schweden hat man schon in den vierziger Jahren angefangen, die Heime mehr und mehr durch kleine Wohngruppen und durch die wirksame Unterstützung Hilfsbedürftiger zu Hause zu ersetzen. Der Hamburger Psychiater Klaus Dörner plädierte jetzt in Erlangen dafür, die "Verheimung" der Hilfsbedürftigen, die im neunzehnten Jahrhundert massiv einsetzte, rückgängig zu machen und die Heime auch bei uns aufzulösen wie die großen psychiatrischen Anstalten - behutsam und Schritt für Schritt im Laufe der nächsten fünfzig Jahre. Nicht nur, weil das Heimsystem in wenigen Jahren ohnehin nicht mehr finanzierbar sei; vielmehr vor allem deshalb, weil das "besondere Gewaltverhältnis" im Heim eigentlich nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei.

Gut gemeinte Entmündigung

"Mit der Verheimung findet eine Entwertung des Menschen statt, auch in seinen eigenen Augen", sagte Dörner. Denn die noch so gut gemeinte Rundumversorgung entmündige die Bewohner. Deren Rechte seien zwar auf dem Papier gestärkt worden, aber die Heimstruktur selbst erschwere ihre Durchsetzung. Bei jeder Zwangseinweisung gebe es öffentliche Proteste, aber niemand interessiere sich dafür, dass Menschen oft jahrzehntelang in Heimen festgehalten werden, die auch draußen leben könnten. Eingewiesen würden sie in einer akuten Notsituation, die weniger von der Schwere des Zustands als von der Lückenhaftigkeit des sozialen Netzes bestimmt sei. Und niemand prüfe die Indikation, auch später nicht.

Nach Dörners Ermittlungen räumen selbst Heimbetreiber ohne weiteres ein, dass ein Drittel der Bewohner auf der Stelle entlassen werden könnten. Nur gibt es in Deutschland noch viel zu wenige kleine Wohngemeinschaften und viel zu geringe Anstrengungen, "das Heim in die Wohnung zu tragen", nämlich seine durch zuverlässige Hilfe zu erreichende Sicherheit und Stabilität. An die Stelle der heutigen strikten Trennung - Pflege durch Angehörige oder durch Professionelle - sollte ein Zusammenspiel treten, das auch Ehrenamtliche einbezieht - wie in der Hospizbewegung, die einen Ansturm von Laienhelfern erlebt.

Wie kann das Reservoir an Hilfsbereitschaft sinnvoll genutzt werden? Lässt sich "Community Care" auch bei uns verwirklichen, kann man also die Heimbewohner wieder der Sorge der Gemeinschaft anvertrauen? Viele offene Fragen für die Pflegeforschung - und für die Politik. Vorbereitet wird eine Bitte an die Fraktionen des Bundestags, die nächste Legislaturperiode mit einer Heim-Enquete zu beginnen.

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