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In einem Zimmer der Intensivstation wird ein Patient mit einem schweren Covid-19 Krankheitsverlauf behandelt.

© picture alliance/dpa/Christophe Gateau

„Es drohen Szenarien, die sich niemand wünscht“: Mediziner schlagen Alarm – diese Krisen könnten das Gesundheitssystem lahmlegen

Naturkatastrophen, Terroranschläge oder eine Ausweitung des Kriegs in der Ukraine: Für keines dieser Szenarien ist Deutschland nach Einschätzung von Fachleuten gewappnet.

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Wo ist das nächste freie Intensivbett? Gibt es genügend Blutkonserven? Und können alle Verletzten versorgt werden? Wohl niemand möchte, dass medizinisches Personal erst über diese Fragen nachdenken muss, wenn man selbst einen Unfall hatte, bei einem Anschlag verletzt oder von einem Unwetter erwischt wurde. Genau dieses Szenario aber droht – davor warnen Fachleute verschiedener Disziplinen.

Zum Beispiel aus der Anästhesiologie, gewissermaßen die Schnittstelle zwischen Schmerztherapie, Intensiv- und Notfallmedizin. Sie bilde das „Rückgrat der modernen Krisenmedizin“, sagte Gernot Marx, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie, am Montag. Und der Vertreter der Notfallmedizin im Berufsverband der Deutschen Anästhesisten, Jan-Thorsten Gräsner, fügt hinzu: „Es drohen Szenarien, die sich niemand wünscht.“

Wenn Triage zum Alltag gehört

Konkret könnten künftig bis zu 1.000 Intensivpatienten täglich neu nach Deutschland kommen, das auch die europäische Drehscheibe für die Verlegung von Schwerverletzten aus der Ukraine bildet. Von dieser Zahl geht die Bundeswehr derzeit aus.

Vor Ort herrscht in dem Kriegsland bereits eine dauerhafte Unterversorgung, berichtet die Direktorin der Abteilung für Transfusionsmedizin und Hämotherapie im Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz, Diana Sauer.

Während Corona wurden Operationen abgesagt oder verschoben.

© picture alliance/dpa/Jan Woitas

Dort müsse triagiert werden: Die sogenannte Triage meint die Frage, wer überlebenswichtige Geräte wie etwa ein Atemgerät oder ein Intensivbett erhält, wenn nicht genügend Ressourcen für alle Patientinnen und Patienten vorhanden sind.

„Während Corona wurden auch hierzulande Operationen abgesagt oder verschoben“, fügt Sauer hinzu, die Oberfeldarzt bei der Bundeswehr ist. In der Ukraine sind auch Kräfte des deutschen Militärs im Einsatz. Während Corona seien hierzulande „Operationen abgesagt oder verschoben“ worden, erinnert die Expertin.

Schutzübungen nicht nur alle zehn Jahre

Um eine Wiederholung solcher Szenarien zu verhindern, fordern die Fachgesellschaften belastbare Konzepte, die sofort greifen könnten – zumal entsprechende Maßnahmen im Verteidigungsfall kaum möglich wären, sagt Intensivmediziner Marx.

So müssten ihm zufolge etwa die Mittel der Digitalisierung optimal genutzt werden, beispielsweise für die psychologische Versorgung von Überlebenden.

Und: „Die Telemedizin kann jemandem in 800 Kilometern Entfernung das Leben retten.“ Ebenso sollten sämtliche Krankenhauskapazitäten im Land digital erfasst werden, und es brauche klare Einsatz- und Notfallpläne.

Regelmäßige Schulungen und Simulationen kosten Zeit und Geld, das Personal muss dafür abgestellt werden.

Grietje Beck, Präsidentin des Berufsverbands der Deutschen Anästhesisten

Reibungslos funktionieren diese Pläne laut Grietje Beck, Präsidentin des Berufsverbands der Deutschen Anästhesisten, allerdings nur, wenn sie regelmäßig trainiert werden. „Regelmäßige Schulungen und Simulationen kosten Zeit und Geld, das Personal muss dafür abgestellt werden“, sagt sie. Im derzeitigen Regelbetrieb sei das kaum möglich, obwohl die Übungen für einen sogenannten Massenanfall von Verletzten jede Klinik durchführen müsse. „Alle zehn Jahre mal – das reicht nicht.“

Desinfektionsmittel als Mangelware

Auch im Verteilsystem sieht Gräsner noch Luft nach oben – auch wenn das sogenannte Kleeblatt seit zig Monaten „weitgehend geräuschlos“ funktioniere. Just nachdem die Verteilung von schwer Covid-Kranken in Europa nach diesem System auslief, begann der Krieg in der Ukraine. Doch nun, nach über drei Jahren Krieg, brauche es ein „Kleeblatt 2.0“ – technisch optimiert, politisch und finanziell abgesichert. „Die Lösungen sind vorhanden“, betont der Experte. „Doch bislang fehlt die praktische Umsetzung.“

Zu Beginn der Pandemie wurde selbst Desinfektionsmittel schnell zur Mangelware. Daher müsse die notwendige Bevorratung mit Materialien und Arzneimittel dringend geplant werden, fordert Beck. Diese Themen drängen laut Militärärztin Sauer nicht erst im Krisenfall: Alljährlich komme es schon jetzt zu Versorgungsengpässen bei universalverträglichen Blutprodukten.

Insofern trage „jede Person, die Blut spendet, zur Sicherheit der Versorgung bei“. Krankenhausmedizinerin Beck mahnt: „Was fehlt, haben wir zuletzt oft erst dann gemerkt, als das Chaos schon ausbrach.“ (KNA)

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