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Einkaufen oder der Gang zum Arzt – Soziotherapeuten helfen bei der praktischen Lebensbewältigung.

© Getty Images/E+

Hausbesuch vom Soziotherapeuten: Sie helfen Menschen, die aus der Bahn geworfen wurden

Manchen Menschen fehlt das Wissen oder die Kraft, um sich selbstständig Hilfe zu suchen. Soziotherapeuten helfen dabei, Menschen in der Krise fit für eine Therapie zu machen.

Von Pat Christ

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Jahrelang ging es Ulrika V. psychisch so schlecht, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht selbst verdienen konnte. Andere Menschen machten ihr Angst. Über das Jobcenter kam sie in Kontakt mit der Soziotherapeutin Tanja Schnepper aus dem nordrhein-westfälischen Kürten.

„Bei unserem ersten Telefonat konnte ich sie fast nicht verstehen, sie sprach extrem leise und weinte dauernd“, berichtet Schnepper. Soziotherapeuten suchen ihre Patienten daheim auf, um ihnen direkt im häuslichen Umfeld zu helfen. Das war im Falle von Ulrika V. zunächst nicht möglich: Die junge Frau ließ zu jener Zeit niemanden in ihre Wohnung. Besuch hätte Panikattacken auslösen können. „Wir trafen uns deshalb erst mal draußen“, erzählt Schnepper.

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Soziotherapien wurden 2024 laut GKV-Spitzenverband verordnet.

Für manche Menschen können Alltagsaufgaben wie etwa Einkaufen fast unüberwindbare Hürden darstellen. In solchen Fällen helfen Soziotherapeuten. Seit mehr als 25 Jahren kann Soziotherapie als Leistung der Krankenkasse verordnet werden.

Die Soziotherapie gibt es seit 25 Jahren

Schnepper bietet seit einem Jahr Soziotherapie an. Seit August tut die Gesundheitspsychologin dies zusammen mit einer Kollegin, die sie in ihrer Praxis angestellt hat. In Kürze wird eine dritte Fachkraft das Team ergänzen. Der Bedarf ist laut Schnepper immens, sodass bereits ein Jahr nach Praxiseröffnung eine Warteliste existiert. Nach ihren Worten geben Hausärzte oft den Anstoß für eine Soziotherapie, wobei viele bis heute nicht oder nicht genau wüssten, was genau darunter zu verstehen sei.

Obwohl Soziotherapie keine neue gesundheitliche Maßnahme ist, sei sie weitgehend unbekannt, sagt Michael Hibler aus Bad Homburg, Vorsitzender des Bundesverbands Soziotherapie. Knapp 500 Therapeuten in Deutschland gehören laut AOK-Bundesverband der Organisation an, wobei in jüngster Zeit wohl weitere, noch nicht registrierte Fachleute hinzugekommen sind. Die Gesamtzahl dürfte deshalb höher liegen.

Soziotherapie erinnert an Psychotherapie, unterscheidet sich jedoch in der Konzeption. Manche Patientinnen und Patienten nehmen auch beides in Anspruch. Charakteristisch für die meisten von ihnen sind nicht nur ein ungeregeltes Leben und massive Probleme, einfache Alltagsaufgaben zu bewältigen. Viele haben auch kein tragfähiges soziales Netz. Da ist niemand aus dem Familienkreis, da sind keine Eltern, da ist kein Bruder und da ist keine Cousine, die gut unterstützen. Freunde sind rar. Der Kontakt zu Nachbarn ist dürftig.

Hilfe beim Einkauf oder Arztbesuch

Viele Betroffene haben weder das Wissen noch die Kraft, sich Hilfe zu holen. Dies bestätigt Soziotherapeutin Rahel Küpper-Schmegner von der Hamburger Einrichtung „Kopfsalat – soziale Dienstleistungen“. Gerade für psychisch Kranke erscheine das System der Gesundheitsversorgung vollkommen undurchsichtig. Ohne aufsuchende Soziotherapie bleibe der Weg zu Ärzten und Psychotherapeuten versperrt.

Wenn ein Mensch aus der Bahn geschleudert wurde, kann dafür laut Michael Hibler vom Bundesverband Soziotherapie ein schwerer Verlust verantwortlich sein. Vielleicht ist der geliebte Partner plötzlich verstorben: „Oder es ist sonst etwas Schlimmes passiert.“ Häufig steckten hinter massiven Seelenproblemen auch schwierige Biografien, etwa eine desaströse Kindheit.

In der Soziotherapie jedoch geht es, anders als in der Psychotherapie, jedoch nicht in erster Linie darum, diese Probleme aufzuarbeiten. Es geht um die praktische Lebensbewältigung und in diesem Zug um gesundheitliche Stabilisierung.

Wie Soziotherapie funktioniert, schildert Hibler am Beispiel der Alltagsaufgabe Einkaufen. Soziotherapeuten begleiten einen Menschen, der es wegen seiner Ängste nicht schafft, in den Laden zu gehen, zwei oder dreimal und kaufen mit ihm zusammen ein. Beim vierten Mal wird der Patient vielleicht nur noch bis zur Ladentür begleitet. Hinterher werden die Erfahrungen reflektiert. Beim fünften Mal gehen die beiden womöglich nur noch gemeinsam vor die Haustüre. Von dort aus zieht der Patient mit der Tasche los und versucht, den Einkauf alleine zu bewältigen.

Zu Ulrika V., berichtet Soziotherapeutin Schepper, habe sie zunächst behutsam versucht, Vertrauen aufzubauen. Irgendwann durfte sie in V.s Wohnung. Nach und nach gelang es, weitere Ängste abzubauen. Heute ist die Mittzwanzigerin so weit, dass sie sich vorstellen könnte, ihr Abi nachzuholen und zu studieren. (epd)

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