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Gesundheit: „Kleine Fächer werden verlieren“

Der Elitenforscher Michael Hartmann zu den Folgen von Studiengebühren für Unis und Studierende

Herr Hartmann, nur zwanzigtausend Studierende sind in der vergangenen Woche gegen Studiengebühren auf die Straße gegangen. Empfindet die Mehrheit Gebühren mittlerweile also als akzeptabel?

Nein, die aktuellen Umfragen zeigen im Gegenteil, dass noch immer vier Fünftel der Bevölkerung wie der Studierenden gegen Gebühren sind. Doch im Moment fühlen sich die meisten Studierenden noch nicht akut bedroht, da selbst Bayern vor 2006 keine Gebühren einführen wird.

Seit Jahren stagniert der Anteil von Studierenden aus der unteren Schicht. Offenbar bringt das gebührenfreie Erststudium als Mittel der Chancengleichheit schon lange nichts mehr?

Das stimmt nur zum Teil. In der Tat lässt sich die soziale Selektivität im deutschen Schulsystem auch von einem gebührenfreien Studium nicht außer Kraft setzen. Gleichwohl hat sich gezeigt, dass der Anteil von Arbeiterkindern mit der Bafög-Reform dieser Bundesregierung wieder spürbar gestiegen ist.

Wenn bei uns der Anteil von Studierenden aus der Unterschicht stagniert – liegt das nicht auch daran, dass die Unterschicht auch in der Gesamtbevölkerung kleiner geworden ist? Womöglich lässt sich in der Restgruppe nun nicht mehr so viel geistiges Potenzial mobilisieren?

Der Anteil der Arbeiterschaft an den Erwerbstätigen beträgt heute etwa 35 Prozent gegenüber gut 50 Prozent in den sechziger Jahren. Es wäre vermessen zu behaupten, nicht einmal jeder Achte aus dieser Gruppe sei in der Lage zu studieren. Da könnten Gebühren durchaus abschreckend wirken.

Neulich hat der ehemalige Stanford-Präsident Gerhard Casper in Berlin gesagt, er schätze den Anteil von Kindern aus der Unterschicht in Stanford auf 30 bis 40 Prozent – trotz hoher Gebühren. Warum klappt das in den USA?

Ich zweifle an diesen Zahlen. Aus einer aktuellen Untersuchung über die 150 besten amerikanischen Hochschulen geht hervor, dass dort drei Viertel der Studierenden aus den oberen 25 Prozent der Gesellschaft stammen, nur 9 Prozent aus der unteren Hälfte der Bevölkerung. An den amerikanischen Top 25 liegt der Anteil der Studierenden aus der unteren Hälfte der Bevölkerung ebenfalls unter zehn Prozent, 80 Prozent der Studierenden kommen aus den oberen 20 Prozent der Bevölkerung, jeder fünfte sogar aus den obersten zwei Prozent.

Die USA haben doch aber ein gut ausgebautes Stipendiensystem?

50 bis 70 Prozent der Studierenden bekommen zwar Stipendien. Doch die reichen inzwischen nicht mehr aus, um der Verschuldung durch Gebühren vorzubeugen. Viele Studierende aus unteren Schichten greifen deshalb unabhängig von ihren Fähigkeiten auf billigere Studienangebote, zum Beispiel an den mäßigen community colleges, zurück. In den USA läuft bereits eine Kampagne mit dem Ziel, Kindern aus wenig begüterten Familien einen Bonus in den Auswahlverfahren an den Hochschulen zu gewähren – vergleichbar der „affirmative action“ für benachteiligte Ethnien.

Andererseits, wenn in Deutschland ohnehin 88 Prozent der Studierenden aus der Ober- und der Mittelschicht stammen, warum soll man sie dann noch mit einem Gratis-Studium zusätzlich privilegieren?

Nur in diesem einen Punkt gebe ich den Befürwortern von Gebühren Recht. Aber hier ließe sich eine größere Gerechtigkeit viel einfacher erreichen, wenn man die Steuersätze für Spitzenverdiener wieder anhebt. In Dänemark etwa ist die Einkommenssteuer hoch, dafür gibt es keine Studiengebühren und jeder Studierende bekommt monatlich 600 Euro für die Lebenshaltung.

Studiengebühren werden gleichwohl kommen. Wie könnte man die Studentenströme mit ihrer Hilfe steuern?

Wie das aussieht, zeigt wiederum das Beispiel USA. Auch bei uns werden die Gebühren vermutlich bald nach Bundesland, Hochschule und Studienfach unterschiedlich hoch sein. Die Studierenden werden darauf reagieren, indem sie sich an mehreren Hochschulen bewerben. In den USA lassen sich viele Hochschulen den Verwaltungsaufwand bereits von den Bewerbern mit 50 bis 100 Dollar bezahlen. So wird die Anzahl der Bewerbungen auch bei uns bald vom Einkommen der Eltern abhängen. Wer nichts riskieren will, wird seine Ansprüche runterschrauben und eine weniger attraktive Hochschule wählen.

Manche argumentieren aber, es sei gut für den Wettbewerb, wenn die Bundesländer unterschiedlich verfahren.

Wenn die Länder nicht einheitlich vorgehen, werden diejenigen Länder profitieren, die auf scharfe Selektion setzen. Wer hohe Gebühren nimmt und damit die Studierendenzahl senkt, kann auch mehr bieten, kann sich also die Rosinen herauspicken. Das wird auch die Belastung zwischen den Ländern verschieben. Und es wird zu einer Hierarchisierung der Hochschullandschaft kommen. In diesem Wettbewerb werden Fächer verlieren, die nicht unmittelbar wirtschaftlich verwertbar sind. Denn die Politik wird entsprechende Profile forcieren und die Studierenden werden Fächer wählen, mit deren Studium sie ihr Schuldenrisiko mildern. Altorientalistik zum Beispiel wird nicht dazu gehören.

Es wäre doch sinnvoll, wenn Deutschlands Hochschulwesen sich stärker ausdifferenzieren und durch schärfere Profile Ressourcen sparen würde. Ein Student, der gar keine großen Ambitionen in der Forschung hat, könnte sein Fach an der Universität X studieren, seine ehrgeizige Kommilitonin ginge an die Universität Y.

Wenn solche Entscheidungen rational wären, wäre dagegen nichts einzuwenden. Aber welcher Student hat schon einen genauen Überblick? Die Rankings sind alle fragwürdig, manche auch manipulativ. Nimmt man etwa die eingeworbenen Drittmittel zum Maßstab, wäre Einstein ein schlechter Forscher gewesen. Trotzdem entfalten Rankings ihre Wirkung. Wer weiß schon, dass die Humboldt-Universität bei der Zahl der Promotionen pro Professor schwächer abschneidet als die Freie und die Technische Universität in Berlin? Das unhinterfragte Image der Humboldt-Universität ist nun mal, dass sie zu den Besten gehört.

Braucht Deutschland aber nicht doch einige Spitzenuniversitäten, mit denen sich die Besten aus der ganzen Welt anlocken lassen?

Wenn man das immer wieder zitierte Shanghai-Ranking anguckt, gibt es unter den weltbesten 50 Hochschulen nur eine deutsche. Aber unter den 500 weltbesten stellt Deutschland nach den USA die meisten. An unserer außerordentlichen Stärke in der Breite sollten wir festhalten. Wenn wir bei weiter reduzierten Mitteln in Zukunft zehn bis zwanzig Prozent der Hochschulen bevorzugen, wird das gesamte System einen Niveauverlust erleiden. Und unsere Spitzenuniversitäten werden trotzdem nicht mit Harvard konkurrieren können. Denn daran, zwei Milliarden Dollar pro Uni auszugeben, denkt niemand.

Das Gespräch führte Anja Kühne

Michael Hartmann ist Professor für Soziologie an der TU Darmstadt. Zu seinen Veröffentlichungen gehören „Der Mythos von den Leistungseliten“ (2002) und „Elitesoziologie“ (2004).

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