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Gesundheit: Lust auf Stress

Rund 400 junge Leute machen ein Freiwilliges Soziales Jahr in Berliner Krankenhäusern. Wenn der Zivildienst wegfällt, werden sie noch gefragter

Die silberne Armbanduhr hängt an der Brusttasche des blauen Krankenhauskittels, gleich unterm Namensschild. Carl Schönbühler verrenkt den Kopf, um zu sehen, wie spät es ist. Dann trägt er in ein Formular ein, wann die Patientin in die Notaufnahme der Schlosspark-Klinik in Charlottenburg eingeliefert wurde. Was als Nächstes zu tun ist, müssen ihm die Schwestern nicht erst sagen: Gleich wird er die Temperatur im Ohr der stöhnenden Frau messen. Während die Pflegedienstleiterin den Blutdruck der Patientin feststellt, bringt er schnell das EKG-Gerät in den Behandlungsraum.

„Ich versuche, ein zusätzlicher Arm zu sein“, sagt Carl Schönbühler. Er ist 17 Jahre alt und macht seit September ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in der Notaufnahme der Schlosspark-Klinik. „Und in eine Notaufnahme wollte ich unbedingt, weil ich Lust auf Stress hatte.“ Die Schlosspark-Klinik hat erst vor kurzem die psychiatrische Pflichtversorgung für Charlottenburg Nord übernommen. Die Patientin, deren Temperatur Schönbühler gemessen hat, ist einer der harmloseren Fälle: Sie hat starke Bauchschmerzen und musste sich übergeben.

Im Behandlungszimmer nebenan tobt währenddessen ein aggressiver dementer alter Mann, der aus einem Pflegeheim in die Notaufnahme gebracht wurde. So etwas kann Carl längst nicht mehr beeindrucken: Er war schon dabei, wenn Abszesse gespalten und punktiert wurden. Und neulich hat er eine Epileptikerin festgehalten, als diese einen Anfall hatte: „Ich hätte vorher nie gedacht, dass ich das schaffen könnte. Aber man überwindet hier seine inneren Barrikaden.“ Die scheinen alle verschwunden zu sein: „Es macht richtig Spaß, beim Nähen von Kopfplatzwunden zu helfen“, sagt er.

Nach dem Mittleren Schulabschluss ist Schönbühler von der Gesamtschule abgegangen: „Bevor ich mir ein Vierer-Abi rauswürge, wollte ich lieber ein paar praktische Erfahrungen machen.“ Nach dem FSJ will er das Abitur nachholen und dann wahrscheinlich Medizin studieren.

Ein bisschen Schule ist aber auch jetzt dabei: 25 Seminartage haben die Freiwilligen, die sich selbst meist „FSJler“ nennen, im Jahr, in denen sie theoretische Grundlagen lernen. In Schönbühlers Fall wird das vom Deutschen Roten Kreuz bezahlt, einem von sechs Trägern in Berlin, die FSJler an Krankenhäuser vermitteln. Das Familienministerium unterstütze die Träger finanziell etwas, aber anders als in anderen Bundesländern gebe es nichts vom Land Berlin, sagt Leopoldine Kawan, die beim DRK für das FSJ zuständig ist. Und die Krankenhäuser zahlten rund 500 Euro pro Monat an die Träger, von denen die Freiwilligen etwa 250 als „Taschengeld“ bekommen.

In der Notaufnahme schaut gerade Kevin Weber vorbei. Der 21-Jährige ist einer der letzten Zivildienstleistenden an der Schlosspark-Klinik vor der Abschaffung der Wehrpflicht. Gerade erzählt er Schönbühler, dass er 600 Euro im Monat ausgezahlt bekommt. „Booah“, ruft dieser, fügt dann aber hinzu: „Aber das ist schon okay. Ich sehe das hier als Schule.“ FSJler seien oft engagierter als Zivis, so Leopoldine Kawan, die auch Zivildienststellen vermittelt. „Es gibt einen Unterschied in der Motivation“, bestätigt der Zivi Kevin Weber, „freiwillig hätte ich das nie gemacht.“ Seit 2002 können junge Männer das FSJ, das zwölf Monate dauert, auch anstelle des Zivildienstes wählen. Doch das tun nur wenige Wehrdienstpflichtige, sagt Kawan. Denn seit 2002 dauert der Zivildienst nur noch zehn Monate und seit vergangenem Dezember sogar nur noch sechs – da fällt die Wahl denen, die sowieso unmotiviert sind, leicht. 70 Prozent der Freiwilligen sind Frauen.

Früher hätten sie zehn Zivis und zehn FSJler gehabt, sagt Uta Buchmann, Sprecherin der Schlosspark-Klinik. Seit der Verkürzung des Zivildienstes bzw. seit der Diskussion um seine Abschaffung ist die Zahl der Zivis deutlich gesunken. Jetzt gibt es 15 FSJler und nur noch drei Zivis: „Fallen die Zivis dann ganz weg, würden wir die Stellen natürlich gerne mit FSJlern auffüllen.“ Leopoldine Kawan vom DRK hat schon länger eine steigende Nachfrage der Krankenhäuser nach Freiwilligen festgestellt. „Und die wird jetzt bestimmt noch zunehmen.“ Nicht überall ist es schon so weit wie an der Schlosspark-Klinik: Insgesamt arbeiten noch 553 Zivildienstleistende in Berliner Krankenhäusern, ihnen stehen rund 400 junge Männer und Frauen zwischen 17 und 27 gegenüber, die ein freiwilliges Jahr machen. Ab dem Sommer, wenn es keine Zivis mehr gibt, sollen diese von einem neuen „Bundesfreiwilligendienst“, der auch Ältere mit einbezieht, ersetzt werden. Zugleich wächst aber die Zahl der Bewerber um ein FSJ. Zurzeit gibt es rund sechsmal so viele Bewerber wie Plätze, sagt Leopoldine Kawan. Wie genau sich das Verhältnis zwischen FSJ und Bundesfreiwilligendienst künftig gestalten wird, ist für sie noch unklar. Sie hofft aber, dass die Freiwilligen „nicht nur als billige Arbeitskräfte Kartons stapeln“.

Weitere Informationen: www.drk-berlin.de/fsj und www.pro-fsj.de

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