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„Stern“-Reporter Gerd Heidemann präsentiert 1983 der Öffentlichkeit die gefälschten Hitler-Tagebücher. 

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Hitler-Tagebücher im „Stern“: Die revisionistische Absicht hinter der Fälschung

30 Jahre nach Veröffentlichung wurden die gefälschten Hitler-Tagebücher der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, eingeordnet vom Politologen Hajo Funke.

Von Pepe Egger

Es war ein journalistisches Debakel, ein Medienskandal, wie es ihn in der deutschen Nachkriegsgeschichte nur selten gegeben hat: Als im Jahr 1983 das Hamburger Nachrichtenmagazin „Stern“ vermeintlich von Adolf Hitler aufgezeichnete Tagebücher veröffentlichte, glaubte man sich dort im Besitz einer Weltsensation. Die Geschichte des Dritten Reiches müsse „teilweise umgeschrieben werden“, verkündete der damalige Chefredakteur Peter Koch. Bald schon stellte sich aber heraus, was eigentlich von Anfang an hätte ins Auge stechen müssen: Die Tagebücher waren ein Fake des später wegen Betrugs verurteilten Malers und Kunstfälschers Konrad Kujau, der dafür 9,3 Millionen Deutsche Mark kassiert haben soll.

Der Stern stellte daraufhin die Veröffentlichung ein, die allermeisten der insgesamt 62 Bände blieben unter Verschluss. Erst Ende Februar 2023 hat der NDR nun die vermeintlichen Tagebücher Hitlers in vollem Umfang veröffentlicht. Und erst jetzt wird es möglich, die Fälschung in Gänze einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Der Politikwissenschaftler Hajo Funke, Professor emeritus des Otto-Suhr-Instituts für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin, hat die Bände, die auch im März-Verlag veröffentlicht werden, historisch-politisch eingeordnet. Sein Urteil: Kujaus Fälschungen seien nicht nur Produkt krimineller Energie und Ergebnis von Geldgier und Geltungssucht, sondern auch ein Dokument der Holocaust-Leugnung und des offensichtlichen Geschichtsrevisionismus.

Denn tatsächlich entspricht der „fiktive Hitler“, den Kujau da erschaffen hat und den man ihm im Stern im doppelten Wortsinn abgekauft hat, ganz und gar nicht dem historisch dokumentierten Diktator. Kujaus Hitler ist zwar ein erbitterter Antisemit, der an vielen Stellen eine angebliche jüdische Weltverschwörung wittert.

Aber zugleich ist er ein wohlmeinender Herrscher, der etwa anlässlich der Bücherverbrennungen im Jahr 1933 angeblich notiert: „An der Berliner Universität wurden undeutsche Schriften und Bücher verbrannt. Als ich diese Meldung bekomme, lasse ich sofort dagegen einschreiten.“ Hajo Funke sagt: Hitler werde von Kujau als ein Staatslenker beschrieben, der nicht einmal den Angriffskrieg gegen Polen gewollt hätte, sondern gezwungen gewesen wäre, auf „Provokationen“ der polnischen Seite zu reagieren.

Titel der „Stern“-Ausgabe zur Entdeckung der vermeintlichen Hitler-Tagebücher.
Titel der „Stern“-Ausgabe zur Entdeckung der vermeintlichen Hitler-Tagebücher.

© imago/teutopress

Vor allem aber: In den Tagebüchern gibt es keinerlei Hinweise auf den Holocaust. Die Ermordung und Vernichtung der europäischen Juden wird nicht einmal erwähnt. So heißt es etwa in einem Eintrag vom 20. Januar 1942, dem Tag der Wannseekonferenz, auf der die Deportation der jüdischen Bevölkerung Europas in die Vernichtungslager organisiert wurde: „Erwarte die Meldungen der Konferenz über die Judenfrage. Wir müssen unbedingt einen Platz im Osten finden, wo sich diese Juden selbst ernähren können.“ Im November 1942 heißt es dann: „Wir kommen nicht weiter mit dem Judenproblem. Keiner will sie haben, selbst unbesiedeltes Gebiet stellt man uns für die Umsiedelung nicht zur Verfügung.“

Kujau suggeriert also, Hitler habe einen neuen Wohnort für die jüdische Bevölkerung angestrebt, aber von ihrer industriellen Vernichtung nichts gewusst, geschweige denn diese angeordnet. Dass der Kunstfälscher Kujau dies auch aus einem politischen Motiv heraus so darstellte, davon ist Hajo Funke überzeugt. Über die revisionistischen Stellen in den Tagebücher-Texten hinaus stützt er sich dabei auf weitere Indizien: Kujau selbst hatte über Jahre hinweg intensiven Kontakt mit verschiedenen Rechtsextremen, Vertretern des NS-Regimes und Neonazis. Etwa arbeitete er schon vor der Veröffentlichung der vermeintlichen Hitler-Tagebücher mit dem Pressesprecher des Neonazi-Anführers und Holocaust-Leugners Michael Kühnen zusammen, mit dem er Hitler-Devotionalien fälschte und in Umlauf brachte.

„Stern“-Gründer Henri Nannen war Mitglied der NS-Propaganda

Das aber führt zur Frage, wie Kujau auf die Idee kam, dass man ihm seinen „fiktiven Hitler“ abkaufen würde? Oder wusste er, dass einige beim „Stern“ und viele Menschen in Deutschland zu der Zeit ganz allgemein, eine genau solche Geschichtsklitterung hören wollten? „Stern“-Redakteur Gerd Heidemann, der Kujaus Fälschungen an Land zog, die Verbindung zum Stern herstellte und die Geldübergabe vollzog, war jedenfalls dafür sehr empfänglich: Funke sagt, Gerd Heidemann sei vom Nationalsozialismus „regelrecht fasziniert“ gewesen. Er habe eine Jacht erworben und restauriert, die vorher einmal Herman Göring gehört hatte – und er war mit einer Tochter Görings liiert.

Hajo Funke weist aber auch auf die NS-Vergangenheit des „Stern“-Gründers Henri Nannen hin: Nannen verteidigte die Veröffentlichung, die damals mit dem Anspruch geschah, nun müsse die Geschichte des Nationalsozialismus neu geschrieben werden. Nannen selbst sei im Zweiten Weltkrieg in einer NS-Propaganda-Einheit tätig gewesen und habe noch in den 1950er-Jahren kriegsverherrlichende Berichte von Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg abgedruckt. Erst danach habe er sich selbst als „fortschrittlicher Akteur der bundesrepublikanischen Medienszene“ quasi neu erfunden.

Man war also empfänglich für den fiktiven Hitler. Aber nicht nur beim Stern selbst. Funke konstatiert ein ganzes Milieu, das zu Beginn der 1980er-Jahre für Kujaus Verharmlosungen und seinen Revisionismus anfällig war: Das habe aus Altnazis bestanden, die endlich die Vergangenheit neu bewerten wollten, und aus jungen Neonazis, mit denen auch Kujau in Verbindung stand. Diese hätten tatsächlich das Vierte Reich gewollt, sagt Funke.

Die Relativierung des Nationalsozialismus entsprach dem Zeitgeist

Über diesen relativ engen Kreis hinaus habe es damals eine Art Zeitgeist gegeben, der offen für eine Relativierung des Nationalsozialismus war. Hajo Funke sagt, viele hätten salopp gesprochen gedacht: Wenn Hitler nur nicht Krieg geführt und es den Holocaust nicht gegeben hätte, dann wäre er doch ein guter Staatsmann gewesen – und Autobahnen hat er auch gebaut.

Auch Joachim Trebbe, Professor am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Freien Universität, sieht die Fälschungen von Kujau als ein Zeitdokument, das seine Entstehung einem Milieu verdankt, das „von der Ästhetik des sogenannten Dritten Reiches fasziniert war“.

Trebbe merkt an, dass Kujau in seinen fiktiven Tagebüchern viel Platz auf die vermeintlich menschlichen Hintergründe der Person Hitler verwendet habe, auf Banalitäten wie persönliche Abneigungen, die Beziehung zu Eva Braun oder – wie aus der Filmsatire über die Hitler-Tagebücher „Schtonk“ nur zu gut bekannt – Details zu Hitlers Verdauung. Weil solch eine „Vermenschlichung“ Hitlers nicht nur dem Zeitgeist entsprach, sondern auch dem Fälscher das Handwerk erleichterte: Da diese Hintergründe historisch nur wenig belegt waren, konnte Kujau freier fabulieren.

Dieser Aspekt habe sich auch dem „Stern“ angeboten, weil der sowieso in seiner publizistischen Ausrichtung eine „Human touch“-Perspektive verfolgt habe, hebt der Wissenschaftler hervor. „Der Stern“, sagt Joachim Trebbe, „wollte zwar immer eine politische Illustrierte sein, hatte aber zugleich stets auch eine boulevardeske Seite.“ Der Stern hatte in den 1970er- und zu Anfang der 1980er-Jahre sehr viele Artikel zum Nationalsozialismus veröffentlicht, bei denen es oft um einzelne prominente Exponenten des NS-Regimes und deren Biografien ging.

Auch die journalistische Aufarbeitung des Medienskandals fokussierte sich anfangs stark auf die Protagonisten selbst: Kujau als Fälscher, Heidemann als Empfänger, die komplizierten Wege des Geldes, von dem einiges abhandengekommen sein soll. „Über die Tagebücher selbst wurde nicht mehr wirklich gesprochen,“ sagt Joachim Trebbe. „Stattdessen fokussierte man sich sehr stark auf die Prominenz der Hauptfiguren, auf den sensationalistischen Aspekt des Medienskandals und nicht so sehr auf den Inhalt, der nun erst in Gänze der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist.“

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