
© AFP/MUHAMMAD HAJ KADOUR
„Aleppo beginnt seine Lebenskraft wiederzufinden“: Assad-Gegner beseitigen Trümmer und verteilen Brot
In Damaskus beginnt unter dem HTS ein neuer Alltag. Aleppo verfügt wieder über eine Strom- und Wasserversorgung. In den Krankenhäusern mangelt es nach wie vor an allem.
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Disbina Biduri kann sogar schon wieder Vorräte anlegen. „Ich habe bereits wieder begonnen, es im Kühlschrank zu lagern“, sagt die 61-jährige Hausfrau aus Suleimanijeh, einem Stadtteil im Nordosten von Aleppo. Sie spricht vom Brot, dem Grundnahrungsmittel schlechthin. „Junge Leute“ verteilten die Laibe, sagt Biduri. Es sei „inzwischen wieder sehr leicht, Brot zu bekommen“.
Biduri beschreibt einen Teil dessen, was die von den Islamisten der Hajat Tahrir al-Scham (HTS) angeführten Gruppen als „Heilsregierung“ bezeichnen. Das nordsyrische Aleppo, das bedeutendste Wirtschaftszentrum des Landes, war Anfang Dezember die erste Großstadt, die die HTS und ihre Verbündeten bei ihrer Großoffensive den Truppen von Machthaber Baschar al-Assad entrissen.
Am vergangenen Wochenende drangen die Aufständischen dann in Damaskus ein und stürzten Assad, der laut russischen Staatsmedien nach Russland flüchtete. Während in der Hauptstadt der neue Alltag unter den Assad-Gegnern gerade erst beginnt, ist Aleppo schon etwas weiter. Dort ist die Arbeit der neuen Herrschenden bereits konkret sichtbar.
Aleppo verfügt wieder über eine Strom- und Wasserversorgung
So haben nach dem Abzug von Assads Armee Arbeitertrupps damit begonnen, die Straßen zu reinigen, die durch die Kämpfe entstandenen Trümmer zu beseitigen und die Strom- und Wasserversorgung sowie das Mobilfunknetz wiederherzustellen. Wachleute patrouillieren nachts in den Straßen, um die öffentliche Ordnung zu sichern. Freiwillige verteilen das Brot, über das Menschen wie die Hausfrau Biduri sich freuen.
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Im Gouvernement von Idlib, südwestlich von Aleppo, praktizieren die HTS und ihre Verbündeten das Modell der „Heilsregierung“ schon seit 2017 – dem Jahr, in dem sie dort die Regierungsmacht übernommen hatten. Die Regierung ist in der Stadt Idlib und Umgebung seither unterteilt in Fachministerien, es gibt dort ein Justizwesen und eine Abteilung für öffentliche Sicherheit.
Der nach Aleppo zurückgekehrte Walid Othman berichtet, dass es anfangs in der Stadt keine Internetverbindungen gegeben habe. Die „Heilsregierung“ habe die Lage dann schnell verbessert, sagt der 27-jährige Lokaljournalist. Das Internet sei teilweise wieder zugänglich, allerdings müssten die Verbindungen noch deutlich verbessert werden.
Auf ihren Internetseiten haben die von der HTS angeführten und nun für die Verwaltung zuständigen Assad-Gegner die öffentlichen Dienstleistungen für die Bevölkerung samt Kontaktdaten aufgelistet.
HTS verteilt 450 Tonnen Mehl an 160 Bäckereien
Die für die Lebensmittelversorgung zuständige Abteilung habe unter Mithilfe örtlicher Nichtregierungsorganisationen 450 Tonnen Mehl an die 160 Bäckereien der Stadt verteilt, sagt der Sprecher der Verwaltung, Abdel Rahman Mohammed. Und die dortigen Bäcker stellten derzeit 250.000 Säcke Brot pro Tag her.
Mohammed berichtet auch von einem Technikerteam, das zum Wärmekraftwerk der Stadt geschickt worden sei, um die Stromproduktion „binnen der kommenden Tage“ wieder auf die maximale Kapazität auszuweiten. Trinkwasser werde in den Stadtvierteln verteilt, die von der Assad-Regierung außer Betrieb gesetzten Mobilfunksender wieder aktiviert. Polizeistationen seien wiedereröffnet und die nächtlichen Patrouillen eingesetzt worden, um das „Privateigentum“ der Bürger zu schützen, erzählt Mohammed.
Krankenhäuser klagen über mangelnde Medikamente
Gotaiba Issa, Leiter der örtlichen Nichtregierungsorganisation Banafsasch, sagt, die Verwaltung in Aleppo habe sich zunächst darauf konzentriert, den „Schock“ des Machtübergangs der Stadt von der Assad-Regierung zu deren Gegnern zu „dämpfen“. Er fügt an: „Gott sei Dank beginnt Aleppo seine Lebenskraft wiederzufinden.“
Auch Jasser Darwisch hat Fortschritte bemerkt. Darwisch ist Urologe am Rasi-Krankenhaus von Aleppo, er ist zeitgleich mit der Machtübernahme durch die Assad-Gegner an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt. Er sagt: „Am Anfang waren dort 15 bis 20 Ärzte und Krankenschwestern, aber innerhalb von vier Tagen hatte das Krankenhaus sein gesamtes Personal wieder.“
Ein Kollege Darwischs, der anonym bleiben will, berichtet, Vertreter der HTS hätten das Krankenhaus besucht und versprochen, sich um dessen Probleme zu kümmern. Der Urologe Darwisch spricht aber auch von großen Problemen, die weiterhin im Rasi-Krankenhaus herrschten: Der Strom falle immer wieder aus, es mangele an Medikamenten.
Es wird mehr notwendig sein als fließendes Wasser und Strom, damit die Bewohner von Aleppo zu einer Art Normalität zurückkehren können, nach 14 Jahren Kämpfen und Gewalt in der Stadt. „Ja, wir haben Wasser und Strom“, sagt Nuri Schamani, 52 Jahre alt und dreifache Mutter. „Aber wir haben kein Einkommen mehr, weil so viele junge Leute arbeitslos sind.“ (AFP)
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