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„Druck auf den Aggressor, der nötig ist“: Selenskyj äußert sich erstmals zu Offensive in Kursk – und spricht von „Vorverlagerung des Krieges“
Der ukrainische Präsident lobte in einer Videoansprache seine Truppen. Dabei bezog er zum ersten Mal Stellung zum Vordringen seiner Armee auf russisches Staatsgebiet. Dort wurden bereits Tausende Zivilisten evakuiert.
Stand:
Wenige Tage nach Beginn des ukrainischen Vorstoßes auf russisches Staatsgebiet bei Kursk hat Präsident Wolodymyr Selenskyj erstmals direkt Stellung zu dem Angriff bezogen. Oberbefehlshaber Olexander Syrskyj habe ihm über „die Vorverlagerung des Krieges in das Gebiet des Aggressors“ berichtet, sagte Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache.
Die Ukraine beweise damit, „dass sie wirklich in der Lage ist, für Gerechtigkeit zu sorgen, und garantiert genau den Druck aufzubauen, der nötig ist – Druck auf den Aggressor“. Über den aktuellen Stand des Vorstoßes der ukrainischen Truppen auf russisches Gebiet machten weder Selenskyj noch die Militärs in Kiew genauere Angaben.
Unterdessen hat der regionale Zivilschutz in Russland angesichts der schweren Kämpfe beim Vorstoß der ukrainischen Streitkräfte in Kursk Zehntausende Menschen evakuiert. Es seien bereits rund 76.000 Zivilisten aus dem Grenzgebiet evakuiert und in anderen Regionen Russlands untergebracht worden, teilte der Zivilschutz nach Angaben der Staatsagentur Tass mit.
Für die Flüchtenden wurden zusätzliche Züge in die Hauptstadt Moskau eingesetzt, außerdem wurden Hilfsgüter in das Grenzgebiet gebracht. „Der Krieg ist zu uns gekommen“, sagte eine Frau, die anonym bleiben wollte, der Nachrichtenagentur AFP bei ihrer Ankunft am Bahnhof in Moskau.
Zum eigentlichen Kampfgeschehen lagen weder von russischer noch ukrainischer Seite Angaben vor. Die ukrainische Aufklärung teilte lediglich mit, dass Russland mit der Verlegung einer Brigade Marineinfanterie von der besetzten Halbinsel Krim in die Region Kursk begonnen habe. Ein Teil der Fahrzeugkolonne sei bereits bei der Anfahrt zerstört worden. Die Angaben konnten nicht unabhängig geprüft werden.
In der gesamten Region Kursk wurde Raketenalarm ausgelöst. Der geschäftsführende Gouverneur Alexej Smirnow warnte auf der Plattform Telegram vor den möglichen Gefahren und forderte die Bevölkerung auf, möglichst Schutzräume aufzusuchen.
IAEA warnte vor nuklearem Unfall in Kursk
Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) hat zudem vor möglichen Gefahren für das dortige Kernkraftwerk gewarnt. IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi rief beide Seiten auf, sich an die Regeln für nukleare Sicherheit in Konfliktgebieten zu halten. „Zu diesem Zeitpunkt möchte ich an alle Seiten appellieren, sich maximal zurückzuhalten, um einen nuklearen Unfall mit potenziell ernsten Strahlungsfolgen zu vermeiden“, sagte IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi in Wien.
Unterdessen wurden Arbeiter von der Baustelle für zwei neue Atomreaktoren im Akw Kursk abgezogen. Die Zahl der Bauarbeiter werde vorübergehend reduziert, teilte die Firma Atomstrojeksport mit, eine Tochter des staatlichen russischen Nuklearkonzerns Rosatom. Die anderen Fachkräfte setzten die Arbeit wie geplant fort.
Das Akw Kursk befindet sich nahe der Stadt Kurtschatow, die etwa 60 Kilometer von der russischen Grenze zur Ukraine entfernt liegt. Die staatliche russische Nachrichtenagentur Ria Novosti berichtete unter Berufung auf den Pressedienst des Kraftwerks, in der Anlage „funktioniert alles normal“, mit den üblichen Strahlungswerten.
Stromausfall nach ukrainischem Drohnentreffer
In der Stadt Kurtschatow und dem Umland fiel wegen eines ukrainischen Drohnentreffers der Strom aus. Das teilte der kommissarische Gouverneur von Kursk, Alexander Smirnow, auf Telegram mit. Russland sagte der IAEA außerdem, dass auf dem Gelände des AKW Teile ukrainischer Raketen gefunden worden seien. Einen direkten Beschuss habe es aber nicht gegeben, hieß es in einem Schreiben der russischen Vertretung bei den internationalen Organisationen in Wien. Die Angaben zu diesem Fund waren nicht unabhängig überprüfbar.
Die Lage in Kursk
- Die Kämpfe in Kursk dauern in zahlreichen Ortschaften an.
- Russische Militärblogger sprachen von einer unruhigen Nacht und Versuchen der ukrainischen Streitkräfte, „einen Blitzkrieg“ fortzusetzen.
- Seit dem Beginn ihres Vorstoßes am Dienstag drang die ukrainische Armee in der Region Kursk offensichtlich mehrere Kilometer weit vor. Das Verteidigungsministerium in Moskau erklärte, die Armee habe ukrainische Stellungen attackiert, die zehn Kilometer von der Grenze entfernt waren. Auch seien ukrainische Truppen in Gegenden beschossen worden, die bis zu 30 Kilometer voneinander entfernt liegen.
- Der Umfang des Einsatzes blieb unklar. Der russische Generalstab hatte zunächst erklärt, es seien mehr als tausend ukrainische Soldaten, ein Dutzend Panzer und etwa 20 weitere gepanzerte Fahrzeuge in die Region Kursk eingedrungen. Am Samstag gab das russische Militär bekannt, die fünffache Menge an ukrainischen Kriegsgerät zerstört zu haben.
Das russische Verteidigungsministerium veröffentlichte am Morgen ein weiteres Video, das eine Verstärkung der Militärpräsenz in der Region zeigen soll. Zu sehen waren Panzer, die Kampfstellungen beziehen sollten, um ukrainische Truppen zu zerstören. Die Aufnahmen waren nicht unabhängig überprüfbar. Das Ministerium meldete auch zahlreiche abgewehrte ukrainische Drohnenangriffe im Raum Kursk.
Russische Militärblogger berichten von Soldaten in ukrainischer Kriegsgefangenschaft
„Im Moment hat sich die Lage stabilisiert“, schrieb der Militärblogger Alexander Chartschenko in einem vom Telegram-Kanal Rybar veröffentlichten Lagebericht. Russische Einheiten kämen voran. „Sudscha steht, das Kommando unternimmt alle Anstrengungen, die Stadt vom Gegner zu säubern“, teilte Chartschenko mit Blick auf einen Ort in der Region Kursk nahe der ukrainischen Grenze mit. „Wenn der Gegner nicht noch bedeutende Kräfte unerwartet an einem Ort einsetzt, dann kann man sagen, dass der Höhepunkt der Krise überwunden ist.“
Russische Militärblogger berichteten außerdem, die ukrainische Armee habe bei ihrem Vorstoß russische Soldaten gefangen genommen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dankte in seiner täglichen Ansprache am Freitagabend seinen Soldaten für die „Tauschreserve“. Damit bezog er sich auf mögliche künftige Vereinbarungen über den Austausch von Gefangenen mit Russland.
Drei Zonen für Anti-Terror-Operationen für härteres Vorgehen
Die russische Führung erklärte in der Nacht zum Samstag die Regionen Kursk, Brjansk und Belgorod zu Sonderzonen für Anti-Terror-Operationen. Überall dort hatte es ukrainische Angriffe gegeben. Die Befugnisse des russischen Verteidigungsministeriums und anderer Teile des Sicherheitsapparats sind nun für ein härteres Vorgehen erweitert. Diesen Schritt hatten Militärblogger bereits nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine 2022 gefordert.
In sozialen Netzwerken kursierte ein nicht überprüfbares Video, das Männer in Uniform mit ukrainischer Flagge im Dorf Poros im russischen Gebiet Belgorod wenige Kilometer von der Grenze zur Ukraine zeigen soll. Kremlkritische Medien bezeichneten das als ein mögliches Ablenkungsmanöver der ukrainischen Streitkräfte. Offizielle Angaben gab es dazu nicht. Nach massiven Angriffen von ukrainischer Seite im vergangenen Jahr hatten Bewohner schon ganze Dörfer an der Grenze verlassen.
Nach Einschätzung des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) in Washington versucht das russische Verteidigungsministerium weiter darauf zu verzichten, Truppen von der Front in der Ukraine selbst abzuziehen, um Einheiten in Kursk zu verstärken. Laut ukrainischer Armee gab es allerdings an den übrigen Schauplätzen der Front auf ukrainischem Gebiet am Samstag so wenig „Kampfhandlungen“ wie seit dem 10. Juni nicht mehr.
Das mit Russland verbündete Belarus gab unterdessen bekannt, seine Einheiten an der ukrainischen Grenze zu verstärken. Um auf „jede mögliche Provokation“ vorbereitet zu sein, würden zusätzliche Truppen und Raketen in die südliche Grenzregion Gomel entsandt, gab das belarussische Verteidigungsministerium im Online-Dienst Telegram bekannt. (dpa, AFP)
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