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Vladyslav Nahornyj

© Montage: Tagesspiegel/Fotos: privat

Der ukrainische Soldat, der mit aufgeschlitzter Kehle überlebte: „Es war pure Willenskraft. Irgendwie habe ich es geschafft“

Vladyslav Nahornyj wurde mit seiner Geschichte berühmt, obwohl er sie selbst lange gar nicht erzählen konnte. Jetzt hat er seine Stimme wieder – und berichtet, wie es nach der Flucht weiterging.

Stand:

Herr Nahornyj, die Ukrainer lesen jeden Tag Nachrichten über russische Gräueltaten. Trotzdem hat Ihre Geschichte viele schockiert. Was macht sie besonders?
VLADYSLAV NAHORNYJ: Die Folter an vielen Kriegsgefangenen wird nie ans Licht kommen. Die Russen töten und vertuschen. Mich haben sie nur fast getötet. Deshalb kennt die Welt meine Geschichte.


Der weiße Verband sitzt fest um Vladyslav Nahornyjs Hals. Der ukrainische Soldat, 33, starrt immerzu geradeaus. Seine Frau, Viktoria Nahorna, hält ihm das Telefon vor das Gesicht, wenn er spricht. Es ist ein Samstag Anfang September, das Ehepaar erzählt per Videocall Vladyslavs Geschichte, die ihn in der Ukraine unfreiwillig zur Berühmtheit machte.

Dass Vladyslav wieder sprechen kann, dass er überhaupt am Leben ist, hielten seine Ärzte für „unmöglich“. Er selbst nennt es ein „Wunder“. Wenn er von der russischen Kriegsgefangenschaft, der Folter und allem, was danach passierte, erzählt, rasselt seine tiefe, breite Stimme. Es ist die Stimme eines Mannes, der erst wieder lernen muss, zu sprechen.

Weil russische Soldaten ihm die Kehle durchschnitten. Das war Mitte August an der Front in Donezk, nahe Pokrowsk. Bevor sie ihn töten wollten, schnitten die Russen ihm auch das rechte Ohrläppchen ab und zogen ihm einen Schneidezahn. Davon zeugt ein Verband an seinem Ohr und eine tiefschwarze Lücke zwischen seinen weißen Zähnen.

Fast wäre er einer von Hunderten Ukrainern geworden, die in Gefangenschaft von russischen Soldaten getötet wurden. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft sprach im Juli von 273 bekannten Fällen. Nach der Genfer Konvention ein Kriegsverbrechen. Genauso wie die Folter, die Vladyslav ertrug und von der viele Freigelassene berichten.


Wie erklären Sie sich, dass Sie am Leben sind?
VLADYSLAV NAHORNYJ: Es war pure Willenskraft. Ich habe fünf Tage mit durchgeschnittener Kehle durchgehalten. Die Ärzte waren sich einig: Mit so einer Verletzung am Hals, mit einem solchen Blutverlust, überlebt niemand. Aber irgendwie habe ich es geschafft.

VIKTORIA NAHORNA: Vladylsav ist seit vielen Jahren Soldat. Er weiß, wie man sich selbst und andere rettet. Stellen Sie sich jemanden Unerfahrenen in dieser Situation vor – wie hätte so jemand überleben sollen?

VLADYSLAV NAHORNYJ: Der Unterricht in taktischer Medizin hat sich ausgezahlt.


Vladyslav, so erzählt er es, kommt aus einer Militärfamilie in Lwiw. Als er nach der Schule zum Wehrdienst sollte, beschloss er, gleich einen Arbeitsvertrag beim Militär zu unterschreiben. Er heuerte beim Luftwaffenkommando „West“ der ukrainischen Streitkräfte in seiner Heimatstadt an. Das war 2012. Sieben Jahre diente er bereits dort, als er und Viktoria sich kennenlernten. Über eine Dating-App, wie er erzählt. Er habe sie angeschrieben.

Vladyslav und Viktoria heirateten im Februar 2020 – nur vier Monate nachdem sie sich auf einer Dating-App kennengelernt hatten.

© privat

Dann sei alles ganz schnell gegangen, sagt Viktoria. Vier Monate später waren sie bereits ein Ehepaar. Viktoria habe sofort gespürt, dass Vladyslav „ihr Mann“ sei.


VIKTORIA NAHORNA: Als wir uns kennenlernten, dachte ich: Mein Gott, was für ein schüchterner Junge! Nach der Hochzeit taute er auf und ich merkte, dass er einfach ein ernster Mensch ist. Er ist wie ein Direktor, wenn er etwas sagt, dann gilt das. Aber er ist ein guter Mensch. Einer, der sein Wort hält, der ein Geheimnis für sich behalten kann und der seine Mitmenschen nicht im Stich lässt. Das gilt auch für seine Kameraden. Wenn zum Beispiel die Hälfte seiner Jungs Ausgang bekommt und die andere auf ihrer Position bleiben muss, bleibt er auch dort.

VLADYSLAV NAHORNYJ: Keine schlechte Beschreibung. Mir fällt es immer noch schwer zu sprechen, deshalb lasse ich das so stehen.

VIKTORIA NAHORNA: Nach unserer Hochzeit lief Vladyslavs Vertrag bei den Streitkräften aus und er zog zu mir nach Chmelnyzkyj. Ich schlug ihm vor, sich einen anderen Beruf zu suchen. Aber er wollte unbedingt beim Militär bleiben und trat einer Einheit der Nationalgarde in Chmelnyzkyj bei. Selbst in seiner Freizeit schaute er ständig Kriegsfilme. Am Anfang fand ich das schrecklich, aber irgendwann haben die Filme auch mich gepackt.


Im Februar 2022 greifen Russlands Streitkräfte die gesamte Ukraine an. Vladyslav lässt sich damals in eine Kampfeinheit der Nationalgarde versetzen. Zuvor war er im Hinterland stationiert, fuhr dort Streife durchs Stadtgebiet. Vladyslav sagt, ihm sei klar gewesen, dass er die Ukraine in dem Krieg verteidigen müsse. „Wenn ich nicht gehe und noch einer nicht geht und noch einer – dann stehen die Russen bald in Kyjiw.“

Vladyslav Nahornyj diente seit Beginn der Vollinvasion in einer Kampfeinheit der ukrainischen Nationalgarde – und meldete sich bis zu seiner Gefangenschaft regelmäßig bei seiner Familie.

© privat

Vladyslav zog in den Krieg. Von dort schickte er regelmäßig Fotos und Videos. Einige davon liegen dem Tagesspiegel vor. Sie zeigen Vladyslav mit seinen Kameraden, mal im Militärkonvoi, mal im Schützengraben, immer mit einem Lächeln. „Das hier ist mein Häuschen“, sagt er. Ein Schwenk mit der Handykamera. Erde, Matsch, ein Funkgerät. Zum Schluss ein Luftkuss in die Kamera, ein breites Grinsen. Damals hatte Vladyslav noch alle Zähne.


Wie sind Sie in russische Kriegsgefangenschaft geraten?
VLADYSLAV NAHORNYJ: Wir hielten zu dritt eine Stellung nahe Pokrowsk. Nach zwei Wochen brach sich einer von uns den Arm und wurde evakuiert. Mein Kollege und ich hielten für rund weitere 64 Tage die Stellung, bis wir abgelöst werden sollten. Beim Rückzug entdeckten uns feindliche Drohnen. Wir rannten zu einem Bunker, aber die Drohnen und die Artillerie zerlegten unsere Stellung. Das hätten wir nicht überlebt. Also befahl ich, übers Feld zu den ersten Häusern zu rennen und dort Unterschlupf zu suchen. Wir rannten. Doch ich wusste nicht, dass in dem Dorf sowohl ukrainische als auch russische Stellungen standen. Ich lief in das falsche Haus.

VIKTORIA NAHORNA: Ich stand in regelmäßigem Kontakt mit seinen Kommandeuren, habe sie gefragt, ob mit Vlad alles in Ordnung ist. Normalerweise antworteten sie innerhalb einer halben Stunde: „Alles gut, er lebt, machen Sie sich keine Sorgen.“ Aber am 10. August bekam ich keine Antwort. Erst am nächsten Tag sagten sie mir, dass sie den Kontakt zu Vlad verloren hatten. Ich wählte alle Nummern seiner Kameraden, die ich hatte. Aber niemand meldete sich. Am Morgen des 13. August sagte man mir: Vlad gilt offiziell als verschollen.

Auf Fotos mit seinen Kameraden lächelt Vladyslav Nahornyj meistens. Seine Frau sagt, er lasse „seine Jungs“ nicht im Stich.

© privat

VLADYSLAV NAHORNYJ: Sie brachten mich in einen Keller. Dort waren sieben andere ukrainische Soldaten. Und zwei Russen. Es waren russische Häftlinge, die aus dem Gefängnis in die Armee rekrutiert worden waren. Sie haben uns verhört, geschlagen, gefoltert. Und mir letztlich die Kehle durchgeschnitten. Sie warfen uns in eine Grube hinter dem Haus. Ich band mir die Wunde am Hals mit einem T-Shirt ab und fing langsam an, wegzukriechen. Auf dem Weg wurde ich beschossen, von beiden Seiten. Unsere Soldaten hielten mich für einen Russen. Ich musste mich verstecken. Erst abends, als es ruhiger wurde, habe ich mich Stück für Stück weitergeschleppt – bis ich irgendwie zu einer ukrainischen Stellung kam.

VIKTORIA NAHORNA: Vlads Bruder Schenja und ich hatten schon alle Papiere für die Vermisstenmeldung vorbereitet, da bekam ich einen Anruf: „Vlad ist zurück, er ist bei seinen Jungs.“ Sie sagten nur, er sei verletzt. Sie wollten mich wohl nicht erschrecken. Ich habe sofort allen Bescheid gesagt, und alle haben vor Freude geweint. Aber insgeheim hatten wir die ganze Zeit gewusst, dass er am Leben ist. Er findet immer einen Weg.

Warum beschlossen Sie, Vladyslavs Geschichte publik zu machen?
VIKTORIA NAHORNA: Vor allem wegen der Ärzte. Sie haben Fotos von seiner Evakuierung veröffentlicht. Eine Freundin machte mich auf ein Bild aufmerksam. Das Gesicht war verpixelt und man sah die riesige, klaffende Halsverletzung. Anhand einer lichten Stelle an seinem Bart wusste ich: Das ist Vlad. Es war schwer zu ertragen, aber ich teilte das Bild auf Social Media. Die Ärzte sagten: Wäre der Schnitt auch nur einen halben Zentimeter länger gewesen, wäre er binnen weniger Minuten tot gewesen.


Schon bald begann für Vladyslav und Viktoria ein Medienmarathon. Nach seiner ersten Operation in einem Krankenhaus in der Region Dnipropetrowsk kamen Fernsehteams aus der ganzen Ukraine auf seine Station. Zu diesem Zeitpunkt konnte Vladyslav noch nicht reden. Viktoria und sein Bruder Yevgen erzählten den Reportern Vladyslavs Geschichte.

Vladyslav Nahornyj gibt nach seiner ersten OP viele Interviews, bis ihm der Medienrummel zu viel wird.

© Screenshot/suspilne.media

Vladyslav hatte zuvor alle Details in ein Heft geschrieben. Zum Beispiel, dass seine Hände hinter seinem Rücken gefesselt waren, als die russischen Soldaten ihn und seine toten Kameraden in eine Grube geworfen haben sollen. „Er sagt, dass er Glück hatte, dass sie die Körper mit Müll überschütteten, um sie zu verstecken“, erzählt Viktoria in einem Videobeitrag: „Da war auch eine abgebrochene Flasche, mit der er seine Fesseln durchschneiden konnte.“ Vladyslav kommen während des Interviews die Tränen.


Einige Tage nachdem ukrainische Medien über Ihren Fall berichtet hatten, verbreitete sich die Meldung, Sie seien aus dem Krankenhaus verschwunden. Was war passiert?
VLADYSLAV NAHORNYJ: Mir war die ganze Aufmerksamkeit vom Fernsehen, den Medien und Freunden einfach zu viel. Meine Familie war gestresst von dieser medialen Überpräsenz. Ich wollte, dass man mich etwas vergisst.

VIKTORIA NAHORNA: Es war einfach zu viel. Ständig hieß es: „Kommt, wir filmen das, wir filmen jenes.“ Das hat ihn überrollt. Alles noch einmal durchzusprechen, und noch einmal, das war zu viel. Erst vor wenigen Tagen hatte er seine zweite Operation. Sie haben ihm den Hals vollständig zugenäht – und er kann sogar wieder sprechen. Dabei waren die Ärzte sich nicht sicher, ob seine Stimme überhaupt wieder zurückkommt.

VLADYSLAV NAHORNYJ: Ich kuriere mich aus und will dann in den Dienst zurückkehren. Mein Wille, zu dienen, ist nicht kleiner geworden. Allerdings nicht direkt an der Front.

VIKTORIA NAHORNA: Ich wäre die glücklichste Frau, wenn man ihn ausmustern würde. Aber er will weitermachen. Ich unterstütze ihn zwar dabei, aber wir haben besprochen, dass er nicht an die Front zurückkehrt. Er hat schon genug bewiesen.

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