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„Die Leute bezahlen ihre Schulden mit neuen Schulden“: Istanbul wird für viele zu teuer zum Leben – und zum Sterben
Die Inflation in Istanbul liegt bei 40 Prozent – weit höher als der Landesdurchschnitt. Bei so hohen Mieten und Lebensmittelpreisen bleibt kaum Geld für anderes. Die verzweifelte Lösung: ein Leben auf Pump.
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Ali hat ein Problem: Er braucht Winterreifen für sein Auto. Der Mittvierziger hat einen guten Job, auch seine Frau verdient. Doch die Reifen kann er sich nicht leisten. Wie bei vielen Istanbulern geht das meiste Einkommen der Familie für die Miete und die Schule für die Kinder drauf, für Extras bleibt nichts übrig.
Ali hilft sich, indem er sich – wieder einmal – eine neue Kreditkarte besorgt. So machen es viele Istanbuler. Auf Pump zu leben, sei in Istanbul weit verbreitet, sagt der Wirtschaftsexperte Mustafa Sönmez. „Die Leute bezahlen ihre Schulden mit immer neuen Schulden.“ Jetzt wird auch noch das Sterben teurer.
Istanbul war schon immer teurer als andere türkische Städte. Die Metropole am Bosporus erwirtschaftet rund ein Drittel des türkischen Bruttoinlandsproduktes und ist ein Zentrum für Industrie, Finanzsektor und Tourismus, doch für viele ihrer 16 Millionen Einwohner wird die Stadt unbezahlbar.
Allein die monatliche Durchschnittsmiete in den bürgerlichen Wohnbezirken von Istanbul liegt bei umgerechnet fast 1200 Euro und ist damit fast dreimal so hoch wie der Netto-Mindestlohn von 440 Euro, mit dem Millionen Türken auskommen müssen. Besonders schlecht verdienen Verkäufer oder Kellner. Für viele Menschen bedeute der Mindestlohn „nichts anderes als Armut“, sagte Sönmez unserer Zeitung.
Dass viele Istanbuler mehr Geldsorgen haben als Türken in anderen Teilen des Landes, liegt an der besonders hohen Inflation in der Stadt von fast 40 Prozent – fast zehn Prozentpunkte höher als im Landesdurchschnitt – und dem Umbau vieler Istanbuler Wohnungen zu Ferienapartments für Touristen. Istanbul zählte in den ersten neun Monaten des Jahres rund 14 Millionen Besucher und könnte den bisherigen Jahresrekord von 18,5 Millionen Touristen brechen.
Einige Stadtteile in Istanbul wie das Ausgehviertel Cihangir mit seinen Kneipen, Cafés und Restaurants sind für angestammte Bewohner kaum noch wiederzuerkennen. Er lebe seit 40 Jahren in Cihangir, doch nun verliere das Viertel seinen Charme, schrieb der Klatsch-Kolumnist Tugrul Eryilmaz auf der Nachrichtenseite T24. „Alle haben ihre Wohnungen in Airbnbs umgewandelt und sind abgehauen.“

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Selbst ohne die Gäste platzt Istanbul aus allen Nähten. Die Einwohnerzahl hat sich seit 1990 mehr als verdoppelt. Präsident Recep Tayyip Erdoğan will die Stadt noch weiter ausbauen und plant einen Kanal zwischen dem Marmarameer und dem Schwarzen Meer im Westen von Istanbul. Von dem „Kanal Istanbul“ ist noch nichts zu sehen, aber Wohnblocks werden in der Gegend bereits gebaut und verkauft.
Nach Zahlen des türkischen Statistikamtes betrug der landesweite Anstieg der Mieten im November im Jahresvergleich rund 50 Prozent. Die Ausgaben für Bildung steigen noch schneller. Selbst wenn eine Familie ihre Kinder auf eine kostenlose staatliche Schule schickt, schlagen Verpflegung und Schulbus jeden Monat noch einmal mit 100 bis 200 Euro zu Buche. Ein Platz in einem privaten Istanbuler Studierendenwohnheim kostet einen Monatslohn.
Kaum Platz auf den Friedhöfen
Nun wird auch noch das Sterben teurer, denn auf den Friedhöfen wird der Platz knapp. Der Preis für ein Grab auf einem Istanbuler Friedhof soll nach einer Beschlussvorlage für das Istanbuler Stadtparlament zum neuen Jahr um bis zu 200 Prozent steigen. Für eine neue Grabstelle auf einem der begehrten historischen Friedhöfe in der Innenstadt müssen demnach bald umgerechnet fast 7000 Euro bezahlt werden. Erst vor einem Jahr waren die Preise um 60 Prozent angehoben worden.
Insgesamt betreibt die Riesenstadt fast 600 Friedhöfe mit einer Gesamtfläche von 14 Millionen Quadratmetern, doch schon vor Jahren mussten rund 130 Friedhöfe für Neuzugänge gesperrt werden, weil sie voll waren. Jeden Tag werden in Istanbul rund 150 Menschen zu Grabe getragen, jedes Jahr sterben am Bosporus etwa 60.000 Menschen.
Auch auf den Straßen Istanbuls wird es eng. Rund 5,5 Millionen Fahrzeuge sind in der Stadt unterwegs. Seit der Pandemie nimmt besonders die Zahl der Moped-Kuriere zu: Vor fünf Jahren zählten die Behörden rund 370.000 Mopeds, heute sind es fast 800.000. Istanbuler Autofahrer verbringen im Durchschnitt 118 Stunden im Jahr im Stau, das ist Weltrekord. Den Wagen stehen zu lassen, ist auch nicht billig: Parkplätze verteuern sich zum 1. Januar um 33 Prozent.
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