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Ein Jahr nach dem Sturz von Assad: Wohin führt Präsident Ahmed al-Scharaa das kriegsmüde Syrien?
Seit knapp einem Jahr regiert in Syrien Ahmed al-Scharaa. Die Skepsis gegenüber dem ehemaligen Islamistenchef ist groß – und er hat nicht nur mit Problemen im Inland zu kämpfen.
Stand:
Anfang November wurde Ahmed al-Scharaa eine besondere Ehre zuteil. Als erster syrischer Staatschef seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1946 wurde er ins Weiße Haus nach Washington eingeladen.
Und der derzeit dort regierende Präsident hatte nur Gutes über seinen Gast zu sagen. Einen „starken Anführer“ habe er da vor sich, einen „harten Typen“, sagte Donald Trump.
Es ist eine scharfe Wendung im Verhältnis der Amerikaner zu al-Scharaa. Noch vor gut einem Jahr hatte die US-Regierung zehn Millionen Dollar Kopfgeld auf ihn ausgesetzt.
Das änderte sich im Dezember 2024.
Al-Scharaa führte eine Offensive des Milizenbündnisses Haiat Tahrir al-Scham (HTS) von der nordsyrischen Provinz Idlib an und stürzte den syrischen Diktator Baschar al-Assad, der ins russische Exil fliehen musste.

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Al-Scharaa erklärte sich Ende Januar zum Übergangspräsidenten des über Jahrzehnte vom Bürgerkrieg zerstörten Landes. Er versprach, die unterschiedlichen Fraktionen und Minderheiten an einen Tisch zu bringen und aus Syrien einen friedlichen Staat zu machen.
Doch auch ein Jahr nach dem Sturz von al-Assad lautet die Frage: Kann der 43-Jährige das Land tatsächlich einen und es gar auf einen demokratischen Weg führen? Dass viele Syrer skeptisch bleiben, hat auch mit al-Scharaas Biografie zu tun – und der Gewalt, die seit seinem Amtsantritt das Land immer wieder erschüttert.
Al-Scharaa, vor seiner Zeit als Präsident unter seinem Kampfnamen Mohammed al-Dscholani bekannt, wurde in Saudi-Arabien geboren. In den frühen 2000er-Jahren, kurz vor dem Krieg der USA im Irak, schloss er sich der Terrororganisation Al-Qaida an, später der islamistischen al-Nusra-Front. Von 2017 bis 2025 war er Anführer der HTS-Miliz, die ihre Wurzeln bei Al-Qaida hat. Al-Scharaa selbst landete 2013 auf einer US-Liste von Terroristen.
HTS brach 2016 mit der Terrorgruppe. Seit 2017 herrscht HTS in der Provinz Idlib – und das nicht immer ausschließlich radikal und brutal. Die Gruppe machte Zugeständnisse: Christen durften Gottesdienste abhalten, Frauen studieren oder Auto fahren. Bei der islamistischen Vergangenheit der HTS war das keine Selbstverständlichkeit und hielt so lange, bis die Herrschaft selbst nicht infrage gestellt worden ist.
Die Hoffnung war entsprechend groß, dass al-Scharaa die Ansätze aus Idlib nach seinem Amtsantritt auf das ganze Land anwenden und weiterentwickeln würde.
Al-Scharaa hat das politische Zentrum schnell stabilisiert, jedoch auf eine Weise, die Macht konzentriert, anstatt sie zu verteilen.
Houssein al-Malla, Nahost-Experte und wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA-Institut für globale und regionale Studien.
Die Übergangsregierung erarbeitete einen Verfassungsentwurf, der im März von al-Scharaa unterzeichnet wurde. Doch auch hier gab es Skepsis. Zwar wurde die politische Teilhabe aller Syrer unabhängig von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit sowie Meinungs- und Pressefreiheit festgeschrieben.

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Doch die politische Führung der Kurden, die den Nordosten Syriens kontrolliert, warf al-Scharaa vor, in der Verfassung eine zu zentralistische Herrschaft verankert zu haben.
„Al-Scharaa hat das politische Zentrum schnell stabilisiert, jedoch auf eine Weise, die Macht konzentriert, anstatt sie zu verteilen“, sagt Houssein al-Malla, Nahost-Experte und wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA-Institut für globale und regionale Studien.
„Das Risiko besteht nicht darin, dass er Assads Autoritarismus eins zu eins reproduziert, sondern dass er ein System wiederaufbaut, in dem die zentrale Autorität unhinterfragt ist und Opposition nur zu seinen Bedingungen toleriert wird.“ Die Frage bleibe, ob er Institutionen aufbaue oder sie nur um sich selbst herumbaue, sagt al-Malla.
Erste Parlamentswahlen fanden im Oktober statt
Im Oktober ließ al-Scharaa die ersten Parlamentswahlen seit dem Sturz Assads abhalten. Diese verliefen zwar reibungslos. Doch wurden die 210 Abgeordneten durch Wahlleute bestimmt und nicht durch die syrischen Bürger. Ein Drittel wurde zudem von al-Scharaa selbst ernannt. „Um das Land zu einen, muss man die Macht aufteilen. Er hat noch nicht gezeigt, dass er dazu bereit ist“, sagt Houssein al-Malla.
Erschwert wird das Vertrauen in ihn zudem durch brutale Auseinandersetzungen im vergangenen Jahr. In den Monaten nach seinem Amtsantritt konnte, oder wie Kritiker sagen, wollte er Massaker an Alawiten im Nordwesten, einer Assad-treuen Minderheit, und der Volksgruppe der Drusen in Südsyrien nicht verhindern.
Hilfe aus dem Ausland ist für al-Scharaa nicht nur wichtig, sondern existenziell.
Houssein al-Malla, Nahost-Experte und wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA-Institut für globale und regionale Studien
Trotzdem bemüht sich al-Scharaa seit einem Jahr darum, Investoren ins Land zu locken, um den Wiederaufbau des Landes anzuschieben.

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Durch diplomatische Offensiven schaffte er es außerdem, dass viele Sanktionen gegen sein Land gelockert wurden. Die Europäische Union etwa hob im Mai alle wirtschaftlichen Strafmaßnahmen gegen Syrien auf, die USA erklärten viele ebenfalls für ungültig.
„Hilfe aus dem Ausland ist für al-Scharaa nicht nur wichtig, sondern existenziell“, sagt Houssein al-Malla. „Syriens Institutionen, Wirtschaft und Infrastruktur sind zu stark beschädigt, um ohne externe Finanzmittel funktionieren zu können.“
Zu der Herausforderung, Vertrauen in einem über viele Jahre vom Bürgerkrieg traumatisierten Land herzustellen, kommt erschwerend hinzu, dass das Land von außen immer wieder destabilisiert wird.
Israel sieht die islamistische Vergangenheit des Präsidenten skeptisch. Kurz nach dem Fall Assads verlegte die Regierung in Jerusalem Soldaten auf die vom jüdischen Staat 1981 annektierten Golanhöhen und griff Syrien immer wieder aus der Luft an.
Israels Premier Benjamin Netanjahu forderte gar eine „entmilitarisierte Pufferzone“ zwischen der syrischen Hauptstadt Damaskus und den Golanhöhen. Israels Aktionen wurden selbst den USA zu viel, Donald Trump warnte die Regierung in Jerusalem zuletzt gar vor zu viel Einmischung in dem Nachbarland.
Auch Russland hat Interessen in Syrien. Im Oktober verhandelten al-Scharaa und Kreml-Chef Wladimir Putin in Moskau über eine künftige Zusammenarbeit. Dabei ging es um Militärstützpunkte in Syrien, die Russland unbedingt behalten will, und humanitäre Hilfe für Damaskus. Unter Assad stand der Kreml fest an der Seite des Diktators – Moskau will seinen Einfluss in der Region nicht noch weiter verlieren.
„Sein Dilemma ist schlicht, aber schwerwiegend: Er muss einen Staat wiederaufbauen und sich dabei in einer Region zurechtfinden, die dem Staat, den er aufzubauen versucht, noch nicht vertraut“, sagt al-Malla.
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