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Hamburger Familie starb wohl durch Insektizid: Erinnerung an weitere ungeklärte Vergiftungsfälle in Istanbul kommt wieder hoch
Nach dem tragischen Tod einer Familie aus Hamburg werden auch andere Fälle wieder diskutiert. Die türkische Opposition zeigt mit dem Finger auf die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan.
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Der alleinerziehende Taxifahrer Rashid A. aus Uithoorn hatte hart gearbeitet, um seinen Söhnen einen Urlaub in der Türkei zu ermöglichen. Dennoch war in Istanbul nur ein billiges Hotel drin: 23 Euro pro Nacht kostet ein Dreibettzimmer in dem kleinen Hotel in der Altstadt, wo der 57-Jährige im August mit seinen Jungen abstieg.
Als Vater und Söhne am geplanten Abreisetag nicht auscheckten, sahen Hotelangestellte im Zimmer nach. Sie fanden den Vater bewusstlos vor, die beiden Söhne von 15 und 17 Jahren waren tot. Eine Vergiftung vermuteten Ermittler, aber woran – das ist auch drei Monate später unbekannt.
Mehrere Besitzer und Angestellte von Lokalen, in denen die drei Gäste aus den Niederlanden gegessen hatten, wurden damals vorläufig festgenommen – ähnlich wie jetzt nach dem Tod der deutschen Familie B. in einem anderen Hotel im selben Stadtviertel von Istanbul.
Das Hotel der Niederländer aber benannte sich um, löschte alle bisherigen Bewertungen aus seinem Google-Auftritt und macht unter neuem Namen weiter. Ein Ermittlungsergebnis zur Todesursache der Jungen aus Uithoorn wurde bisher nicht veröffentlicht. Der Vater überlebte und beerdigte seine Söhne in den Niederlanden.
Auch nach dem Tod der Hamburger Familie B. vorige Woche gehen die Behörden dem Verdacht auf Vergiftung nach. Ob Mutter Cigdem, Vater Servet sowie ihre drei- und sechsjährigen Kinder Masal und Kadir Muhammet an verdorbenen Lebensmitteln oder einem hochgiftigen Insektizid im Hotel starben, war zunächst unklar.
Jüngster Fall: mehrere Haftbefehle
Die B.s hatten sich während eines Besuches in Istanbul mit Übelkeit und Erbrechen an Krankenhäuser gewandt und waren zunächst wieder nach Hause geschickt worden. Dann starben Mutter Cigdem und die Kinder. Vater Servet B. kam auf die Intensivstation, starb aber ebenfalls am Montagabend. Drei andere Gäste aus demselben Hotel kamen ebenfalls mit Vergiftungssymptomen ins Krankenhaus.
Ein Richter in Istanbul erließ Haftbefehle gegen vier Beschuldigte, die den Besuchern aus Hamburg vermeintlich verdorbene Speisen – frische Muscheln, Schafsinnereien, Hühnchen und Süßigkeiten – verkauft haben sollen. Erste Untersuchungen hätten aber ergeben, dass die Muscheln und die Innereien in Ordnung gewesen seien, berichteten türkische Medien am Dienstag.
Mindestens sieben weitere Verdächtige sitzen in Polizeihaft, darunter der Besitzer des Hotels, in dem Familie B. wohnte. Der Hotelier sei mehrfach vorbestraft, unter anderem wegen fahrlässiger Körperverletzung und Betrug, meldete der Nachrichtensender CNN-Türk.

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Auch der Leiter und zwei Angestellte eines Kammerjäger-Betriebs, der in dem Hotel ein Schädlingsbekämpfungsmittel gegen Bettwanzen versprüht hatte, wurden festgenommen. Er habe alles abgedichtet und auch sonst alles gemacht wie immer, sagte einer der Mitarbeiter laut CNN-Türk im Polizeiverhör aus.
Türkischen Medienberichten zufolge wurde bei dem Einsatz gegen die Wanzen jedoch ein hochgiftiges Insektizid aus der Landwirtschaft eingesetzt. Dämpfe zogen demnach aus einem unteren Stockwerk in das Zimmer der B.s. Gerichtsmediziner suchen nun im Blut der Todesopfer nach Spuren des Gifts Aluminium-Phosphid. Der vorläufige toxikologische Bericht bestätigte einem „Bild“-Bericht zufolge am Dienstag, dass die Familie an dem Insektizid starb.
Vorwürfe gegen die Regierung
Präsident Recep Tayyip Erdogan versprach, es werde nach dem Tod der Gäste aus Deutschland in alle Richtungen ermittelt. Seine Regierung überprüfe bei Lebensmitteln jeden Schritt „vom Acker bis zur Tafel“, sagte der Staatschef nach einer Kabinettsitzung am Montagabend.

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Die Opposition hingegen wirft der Regierung vor, sich schon bei anderen Unfällen im Tourismussektor aus der Verantwortung gestohlen zu haben. In den Ausschussberatungen über den Haushalt des Tourismusministeriums erinnerte der Parlamentsabgeordnete Sururi Corabatir von der Oppositionspartei CHP an die Brandkatastrophe in einem Ski-Hotel im türkischen Kartalkaya, bei der im Januar 78 Menschen starben, darunter 36 Kinder. Tourismusminister Nuri Ersoy habe damals nichts unter Kontrolle gehabt – „außer dem Versuch, die Wahrheit zu verschleiern“.
Haben Sie nie an Rücktritt gedacht?
Oppositionspolitiker Corabatir macht Tourismusminister Ersoy Vorwürfe.
Nach dem Feuer in Kartalkaya habe Ersoy der Justiz die Genehmigung verweigert, gegen Beamte des Tourismusministeriums zu ermitteln, sagte Corabatir nach einem Bericht der Zeitung „Nefes“ im Ausschuss. „Tragen Sie denn überhaupt keine Verantwortung?“, fragte Corabatir den Minister, der auch Chef eines großen Tourismusunternehmens ist. „Haben Sie nie an Rücktritt gedacht?“
Rücktritte oder Entlassungen von Ministern nach Unglücksfällen sind unter Erdogan selten. Selbst nach dem schweren Erdbeben von 2023 mit mehr als 50.000 Toten musste kein Regierungspolitiker gehen, obwohl Tausende Menschen wegen Pfusch am Bau starben.
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