
© REUTERS/ANATOLII STEPANOV
„Ich gehe hier nicht weg“: Trotz Putins Angriffen wollen einige Frontstadt-Bewohner bei Pokrowsk bleiben
Eine Spezialeinheit bemüht sich, die letzten Menschen aus der Stadt Dobropillja nahe Pokrowsk zu evakuieren. Doch viele Bewohner wollen nicht gehen. Die Flucht anderer aus dem Gebiet dauerte tagelang.
Stand:
„Es gibt mehr Drohnen am Himmel als Vögel“, sagt eine sichtlich aufgewühlte ältere Frau in die Kamera. Die 70-jährige Bewohnerin der ukrainischen Stadt Myrnohrad in der Oblast Donezk spricht mit Journalisten des russischen Senders Radio Svoboda, der zur Medienorganisation Free Europe/Radio Liberty gehört und von den USA finanziert wird.
In einem am Montag veröffentlichten Videobeitrag des Senders sind Aufnahmen von den Evakuierungsmaßnahmen in Dobropillja zu sehen. Ukrainische Soldaten griffen demnach die ältere Frau auf, nachdem sie zuvor drei Tage lang zu Fuß von Myrnohrad nach Dobropillja gelaufen war. Sie habe bei ihrer Flucht „eine Drohne nach der anderen“ gesichtet, berichtet sie dem Kamerateam.
Ein Soldat fragt sie, wie sie es durch die stark umkämpfte Stadt Rodynske geschafft habe, die etwa mittig zwischen Myrnohrad nach Dobropillja liegt. Die Frau antwortet ihm: „Ich ging.“ Wenn eine Drohne aufgetaucht sei, habe sie sich in einer Baumreihe versteckt. Sobald die Drohne dann vorübergeflogen sei, sei sie weitergelaufen. „Ich bin generell ein Risiko eingegangen. Ich bin 70 Jahre alt“, berichtet die Frau. „Ich dachte, ich würde es nicht schaffen und das wäre es dann.“
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Pokrowsk-Frontlinie nur zehn Kilometer von Dobropillja entfernt
Die beiden Städte Myrnohrad und Dobropillja liegen von Zentrum zu Zentrum auf der kürzesten Autostrecke knapp 32 Kilometer voneinander entfernt. 42 Minuten braucht man mit dem Pkw. Zu Fuß benötigt man für die Strecke laut Google Maps etwa sieben Stunden – wohlgemerkt ohne Pause und Drohnensichtungen.
Vom Zentrum der aktuell stark umkämpften Stadt Pokrowsk liegt Myrnohrad nur acht Kilometer entfernt. 28 Kilometer Entfernung sind es wiederum zu der 1840 gegründeten Bergbaustadt Dobropillja, in der aktuell die Evakuierungen stattfinden. Den Reportern von „Radio Svoboda“ zufolge soll sich die Frontlinie in nur zehn Kilometern Distanz befinden. Putins Truppen bombardieren derweil die Stadt samt ihren verbliebenen Bewohnern „täglich mit neuen Angriffen“, berichtet das Kamerateam.
Die Evakuierungen aus Dobropillja dauern den Reportern zufolge „bereits mehrere Monate an“ und gestalten sich wegen des häufigen Beschusses als außerordentlich schwierig. Dem Medienbericht zufolge befinden sich derzeit „noch mehr als 1500 Menschen“ in der Stadt, die nach und nach von ukrainischen Soldaten und Mitgliedern der Polizeieinheit „Weiße Engel“ evakuiert werden. Wie aktuell diese Angabe ist, ließ sich nicht unabhängig überprüfen.
Bei Pokrowsk: Viele Bewohner wollen nicht evakuiert werden
In dem Videobeitrag von Radio Svoboda wird außerdem ein männlicher Bewohner Dobropilljas namens Sergej gezeigt, der seine Stadt nach eigenen Angaben bislang nicht verlassen wollte. Ein Evakuierungspolizist hält ihm ein Handy hin, auf dem via Videoanruf seine Tochter Valeria zu sehen sein soll. „Ich versuche schon seit Ewigkeiten, dich anzurufen“, sagt die weibliche Stimme am Handy.
Sergej antwortet sichtlich bewegt: „Das Internet ist hier ausgefallen.“ Der Angehörige der Polizeieinheit „Weiße Engel“ versucht derweil, den Bewohner zu einer Evakuierung zu bewegen: „Sie möchte bei ihrem Vater sein. Sie liebt dich, verstehst du? Du hast jemanden, zu dem du gehen kannst.“ Sergej wischt sich Tränen aus dem Gesicht: „Das liegt am Wind.“ Doch schließlich scheint er nachzugeben. „Okay, wir haben uns geeinigt, er kommt mit uns mit“, sagt der Polizist und begleitet Sergej in seine völlig zerstörte Wohnung, um die letzten Habseligkeiten mitzunehmen.
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In einer weiteren Szene wird eine ältere Frau gezeigt, die im Türrahmen ihres zerstörten Hauses steht. Mitglieder des Evakuierungstrupps fragen sie: „Sollen wir gehen?“ Die Frau antwortet: „Nein. Ich gehe hier nicht weg.“ Der Helfer entgegnet, dass es in Dobropillja nichts mehr für sie zu tun gebe. „Nicht einmal Ärzte sind noch hier“, betont er. „Ärzte können uns jetzt auch nicht mehr helfen“, sagt ein beistehender Mann im Hintergrund und fährt fort „Wir werden hier sterben.“

© Getty Images/Libkos
Das Team trifft auch auf einen 15-jährigen Jungen, der als Minderjähriger eigentlich längst hätte evakuiert werden sollen. Der Soldat fragt den Jungen, ob er bereits mit der Schule fertig sei. Der Teenager bejaht und erzählt zögerlich, dass seine Schwester noch in Dobropillja lebe und den letzten Einkaufsladen dort betreibe. Schließlich wird der Teenager nach einem längeren Gespräch evakuiert.
Das Kamerateam fragt einen der Evakuierungsbeamten später, ob es häufiger vorkomme, dass Bewohner eine Evakuierung ablehnten. Der Helfer bestätigt das: „Von zehn Leuten lehnt die Hälfte ab.“ Er berichtet weiter: „Sie harren bis zum allerletzten Moment aus. Sie warten, bis alles vollständig niedergebrannt ist. Oder bis ihr letzter Angehöriger vor ihren Augen stirbt und im Garten begraben wird. Erst dann gehen sie.“
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