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 A couple walks in front of a drawing of the proposed of new constitution that was rejected in the last referendum of September 4, 2022. During a protest of high school students from public education in Santiago de Chile, on September 8, 2022. Demanding at the government improvements in the infrastructure of educational centers, more teachers, decent food, the integration of LGBTIQA  communities, also against sexist education. Santiago Chile Copyright: xClaudioxAbarcaxSandovalx

© IMAGO/Claudio Abarca Sandoval

Kein radikaler Wandel mehr: Bekommt Chile noch eine neue Verfassung?

Im September stimmte die chilenische Bevölkerung in einem historischen Prozess gegen ein neues Verfassungsdokument. Mehr als 120 Tage später gibt es einen Plan, wie es weitergehen soll.

Stand:

Nach drei Monaten zähen Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition wächst in Chile die Hoffnung, bald doch noch eine neue Verfassung zu bekommen. In einem Kompromiss einigten sich Regierung und Opposition kurz vor dem Jahreswechsel zumindest schon mal auf einen ersten Fahrplan.

Der Senat hat diesem am Dienstag zugestimmt, noch fehlt die Zustimmung des Abgeordnetenhaus, die aber als weitgehend sicher gilt. Erwartet wird, dass dies noch in den ersten Januarwochen passieren wird.

Den ersten Entwurf einer neuen Verfassung lehnte das Land bei einem Volksentscheid im September deutlich ab. Im Zuge der großen Proteste 2019, bei denen Millionen von Menschen auf die Straße gingen und ein Ende der sozialen Ungleichheit im Land forderten, sprach sich bei einem ersten Volksentscheid 2020 die Bevölkerung mit großer Mehrheit für eine neues Regelwerk aus.

Politischer Handlungsdruck bleibt bestehen

Im September stimmten fast zwei Drittel der Wähler:innen gegen den Entwurf – ein überraschend deutliches Ergebnis. Auch, weil die Hoffnungen für eine demokratischere Verfassung einst groß waren.

Sie sollte mit dem neoliberalen Systems Chiles aufräumen und eine historische Schuld begleichen. Denn Chiles aktuelle Verfassung stammt aus dem Jahr 1980 und ist vor allem deshalb umstritten, weil sie ein Überbleibsel aus der Militärdiktatur Augusto Pinochets ist. Ihr fehlt jegliche demokratische Legitimation.

„Aus juristischer Sicht ist die Sache mit dem Volksentscheid am 4. September eigentlich geklärt“, sagt José Ignacio Martínez, Dekan der Juristischen Fakultät der Universidad de los Andes.

„Chile steht aber nicht plötzlich ohne Verfassung da, das Land funktioniert weiter. Aber politisch gibt es nach wie vor Handlungsdruck“, sagt Martínez. Denn nach den Protesten 2019 hatten sich 78 Prozent der Chilen:innen in einem Volksentscheid ein Jahr später eine neue Verfassung gewünscht.

Die Unzufriedenheit ist auch heute noch groß. Vielen Menschen fehlt es an medizinischer Versorgung, Bildungsmöglichkeiten – selbst der Zugang zu Wasser ist oft privatisiert.

Große Teile der Bevölkerung sind arm. Eine neue Verfassung sollte das ändern: Weg von der neoliberalen Ausrichtung der Pinochet-Zeit, die vor allem privates Eigentum schützt, hin zu einem demokratischen Sozialstaat.

Der abgelehnte Verfassungsentwurf wurde dieser Forderung in vielen Punkten gerecht; er garantierte soziale Rechte, Frauenrechte, Rechte der indigenen Bevölkerung und Umweltschutz. Vielen war das 388 Artikel lange Verfassungsdokument dann aber zu ausufernd.

„Außerdem gab es sehr viel Fake News und Desinformation“, sagt Francisca Quiroga, Politikwissenschaftlerin und Leiterin des unabhängigen Mediums „La Voz De Los Que Sobran“. Gerüchte wie Hausenteignungen kursierten herum und verfestigten sich in den Köpfen vieler Menschen.

Das Bedürfnis nach Reformen bestehe aber nach wie vor. „Die Menschen stimmten nicht grundsätzlich gegen eine neue Verfassung – nur diese wollten sie nicht“, meint Quiroga.

Es gibt drei Instanzen für den neuen Prozess

Noch am Tag nach dem Referendum versprach der linke Präsident Gabriel Boric eine möglichst schnelle Lösung für einen neuen verfassungsgebenden Prozess. Aus einer schnellen Einigung entwickelte sich aber ein politischer Machtkampf.

Viele forderten eine Änderung des gesamten Prozesses, einige rechte Parteien – darunter die des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten José Antonio Kast – interpretierten den Ausgang des Volksentscheids vom September als pauschale Absage an eine neue Verfassung und versperrten sich einem Mittelweg.

Um das Fortbestehen des Verfassungsprojekts zu sichern, billigte Boric Mitte Dezember einen Prozess unter Beteiligung des Kongresses. Eine Lösung, die der Regierungschef lange vehement ablehnte. Auch, weil sich die Bevölkerung 2020 so überaus deutlich für eine außerparlamentarische Lösung des verfassungsgebenden Prozesses aussprach.

Doch rechte und konservative Parteien fühlten sich dabei übergangen, ihre Forderungen sahen sie im September-Entwurf kaum repräsentiert. Dass die neue Verfassung nun parteiübergreifend vom Kongress mitgestaltet wird, stimmte die Opposition letztlich um. Auch Boric selbst gibt sich mit dem Kompromiss mittlerweile zufrieden: „Lieber eine unperfekte Einigung als keine Einigung.“

Für den neuen Anlauf einer Verfassungsänderung arbeiten jetzt insgesamt drei Instanzen zusammen: ein gewählter Verfassungsrat, eine Expert:innenkomission und ein juristisches Komitee. Die Bevölkerung darf in diesem zweiten Anlauf nur noch den Verfassungsrat wählen.

Während das Parlament beim ersten Versuch, eine neue Verfassung auszuarbeiten, keinen Einfluss auf den verfassungsgebenden Prozess hatte, ist Chiles neuer Weg nun also deutlich institutionalisierter.

Das gefällt nicht allen. „Es widerspricht dem Charakter der sozialen Proteste, die überhaupt erst zu diesem Verfassungsprozess geführt haben“, analysiert die Politikwissenschaftlerin Francisca Quiroga. Für viele Menschen sei die politische Elite Teil des Problems, sie würden eine außerinstitutionelle Lösung und einen Systemwandel wollen.

Wir werden eine deutlich bescheidenere, moderate Verfassung sehen.

Claudia Heiss, Politikwissenschaftlerin

„Diesen Wandel werden wir jetzt nicht mehr sehen“, sagt Quiroga. Denn Teil der parteiübergreifenden Einigung sind zwölf Bedingungen, die die neue Verfassung zwingend einhalten muss. Unter anderem ist bereits im Vorfeld festgelegt worden, dass Chile ein Zentralstaat bleiben soll. Der abgelehnte Verfassungsentwurf sah aber gerade eine Dezentralisierung des Landes vor. Die wird es jetzt nicht mehr geben können. Auch Chile als plurinationalen Staat zu definieren – eine zentrale Forderung der indigenen Bevölkerung – ist vom Tisch.

Der jetzt gefundene Kompromiss des Präsidenten ist für Quiroga deshalb ein Produkt der politischen Rechten: „Sie will keine radikalen Veränderungen, und sie hat sich den Prozess einverleibt.“

Die Politikwissenschaftlerin glaubt, dass die Parteien den Ausgang des Volksentscheids im Herbst falsch interpretiert hätten: „Borics Koalition hat das Ergebnis als eine Niederlage seiner Regierung verstanden, die rechten Parteien als einen Sieg für sich. Sie verwechseln dabei, dass es sich um eine binäre Entscheidung für oder gegen ein Verfassungsdokument handelte – nicht um Parlamentswahlen.“ 

Auch für Claudia Heiss ist klar: „Wir werden eine deutlich bescheidenere, moderate Verfassung sehen.“ Sie leitet den Studiengang Politikwissenschaft an der Universidad de Chile.

Anders als Quiroga glaubt sie aber, dass der zweite Verfassungsentwurf von der Bevölkerung angenommen werden wird. Der im Herbst abgelehnte Verfassungsentwurf „war vielen in der Bevölkerung zu progressiv“, außerdem gehe man mit den zwölf feststehenden Prinzipien „auf die größten Zweifel ein, die es bei der letzten Abstimmung gab.“

José Martínez sieht das ähnlich. „Wir könnten nun eine Verfassung bekommen, die Veränderungen verspricht, aber keinen radikalen Bruch mit unserem System und der chilenischen Identität verkörpert“, sagt er. „Der letzte Verfassungsentwurf las sich inhaltlich in vielen Teilen nicht wie eine Verfassung, sondern wie ein politisches Programm.“

Ob der neue Verfassungsentwurf in der Bevölkerung eine breite Mehrheit findet, wird sich allerdings erst Ende 2023 zeigen. Dann soll mit einem Volksentscheid über Chiles Verfassung abgestimmt werden. Ein zweites Mal.

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