
© dpa/Julia Demaree Nikhinson
Kritiker sehen autoritäre Tendenzen: Selenskyj stellt Odessa unter Militärverwaltung und entzieht Bürgermeister die Staatsbürgerschaft
Erst entzieht der ukrainische Präsident Selenskyj dem Bürgermeister von Odessa die Staatsbürgerschaft. Nun stellt er die Hafenstadt unter Militärverwaltung.
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Ein drastischer Schritt des ukrainischen Präsidenten gegen eine Lokalverwaltung: Wolodymyr Selenskyj hat die Schwarzmeer-Metropole Odessa im Konflikt mit dem Bürgermeister unter Militärverwaltung gestellt. Per Dekret gründete das Staatsoberhaupt die neue Militärverwaltung und bestimmte den Geheimdienstgeneral Serhij Lyssak zu deren Chef. Lyssak wurde zugleich als Militärgouverneur der Region Dnipropetrowsk nach mehr als zweieinhalb Jahren von seinem Amt entbunden, um der neuen Aufgabe nachzugehen.
„Viel zu viele Sicherheitsfragen in Odessa blieben viel zu lange ohne entsprechende Antworten“, sagte Selenskyj zuvor, ohne konkrete Details zu nennen. Die Stadt brauche einen stärkeren Schutz und mehr Unterstützung.
Selenskyj geht auch gegen Bürgermeister vor
Selenskyj wirft dem Bürgermeister der Hafenstadt, Hennadij Truchanow, den Besitz der russischen Staatsbürgerschaft vor. Zudem entzog er dem 60-Jährigen die ukrainische Staatsangehörigkeit. Mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit ist das gewählte Stadtoberhaupt auch praktisch seines Amtes enthoben, ihm könnte sogar eine Abschiebung drohen.
Der seit 2014 amtierende Bürgermeister wies die Vorwürfe im öffentlich-rechtlichen Sender Suspilne zurück. Er habe Beweise, dass er die russische Staatsbürgerschaft nicht besitze. Truchanow kündigte an, gerichtlich gegen die Vorwürfe vorzugehen – und sieht sich nach wie vor im Amt.
Truchanow verurteilte Russland immer wieder wegen der vielen Angriffe auf Odessa. Er hatte allerdings auch Kritik auf sich gezogen, weil er sich wiederholt gegen die sogenannte Ent-Russifizierung ausgesprochen hatte. Diese begann 2014 nach der Annexion der Krim durch Moskau und wurde durch die russische Invasion 2022 angefacht. Der Bürgermeister hatte sich gegen den Abriss der Denkmäler für Zarin Katharina die Große und für den russischen Dichter Alexander Puschkin ausgesprochen.
Vorgelegte Geheimdienstbelege werden angezweifelt
Investigativjournalisten des russischen Portals „The Insider“ zweifelten indes die Echtheit der vom Geheimdienst SBU gegen Truchanow vorgelegten Dokumente an. Die Überprüfung der Passnummer habe ergeben, dass ein derartiger Reisepass fünf Jahre früher und an eine Frau ausgegeben worden sei. Zudem enthalte die veröffentlichte Kopie einen Fehler bei der englischen Transliteration des Vornamens Gennadi mit lateinischen Buchstaben. Statt „Gennadiy“ sei „Genadiy“ geschrieben worden.
Selenskyjs Vorgehen nicht ohne Kritik
Der oppositionelle Abgeordnete aus Odessa und scharfe Kritiker Selenskyjs, Oleksij Hontscharenko, sagte, Truchanow habe zwar „viele Fragen“ zu beantworten, verurteilte jedoch den Entzug seiner Staatsbürgerschaft. „Heute werden sie Truchanow holen und wir werden uns alle freuen, weil er böse ist. Aber morgen wird diese Repressionsmaschinerie gegen unbequeme Menschen entfesselt“, warnte er auf Telegram.
Kritiker Selenskyjs beklagen, dass der Präsident immer mehr gewählten Volksvertretern eine Militärverwaltung mit seinen Vertrauten vorsetze. Aufgrund des geltenden Kriegsrechts werden die eigentlich Ende Oktober fälligen Kommunalwahlen ausgesetzt. Die Vollmachten aller kommunalen Vertreter wurden allerdings durch einen Parlamentsbeschluss bis Ende des Krieges bestätigt.
Selenskyj werden bereits seit Längerem unter anderem vom Bürgermeister der Hauptstadt Kiew, Vitali Klitschko, autoritäre Tendenzen vorgeworfen. Zwischen Klitschko und dem von Selenskyj eingesetzten Militärverwalter Tymur Tkatschenko ist es in den vergangenen Tagen zu öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzungen gekommen. Selenskyj hatte Klitschko nach Stromausfällen infolge russischer Drohnenangriffe kritisiert. (dpa/Reuters)
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