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Unmittelbar nach seinem Wahlsieg reiste der frisch gewählte Präsident José Antonio Kast nach Argentinien, um sich mit Staatschef Javier Milei zu treffen.

© AFP/Argentina’s Presidency, Handout

Lateinamerika rückt weiter nach rechts: „Linke Regierungen haben Vertrauen verspielt“

Argentinien, Ecuador, Honduras – und jetzt Chile. Menschen in Lateinamerika wählen vermehrt rechte Regierungen. Eine chilenische Politikwissenschaftlerin erklärt, woran das liegt.

Stand:

Frau Quiroga, Chiles neuer Präsident heißt José Antonio Kast. Seit dem Ende der Militärdiktatur des Generals Augusto Pinochet 1990 hatte das Land kein so rechtes Staatsoberhaupt mehr. Kast ist Sohn eines bayerischen NSDAP-Mitglieds, erzkonservativer Katholik, verharmlost die Verbrechen der Diktatur. Die Chilenen wählten ihn dennoch mit mehr als 58 Prozent. Was sagt das über das Land aus?
Große soziale Proteste 2019 und danach die Pandemie haben ein zutiefst verunsichertes Chile hinterlassen, das sich von der Politik im Stich gelassen fühlte – und zwar sowohl von rechts als auch von links.

Für viele Wähler stellte Kast eine Alternative für das dar, was sie nicht mehr wollten: von einem Establishment regiert zu werden und Angst zu haben.

Dabei ist auch Kast Teil des „Establishments“: Er ist seit Jahrzehnten politisch aktiv und gehört zu einer einflussreichen Familie. Seine Geschwister waren Abgeordnete und Senatoren, sein älterer Bruder Miguel Kast sogar einer von Pinochets Ministern.
Ja, Kast ist kein politischer Außenseiter, wie es vielleicht Präsident Javier Milei in Argentinien oder damals Jair Bolsonaro in Brasilien waren – und mit denen er oft in einem Satz genannt wird.

Er war lange Teil der traditionell rechten Partei UDI, dort aber immer eine merkwürdige Randfigur, die nicht richtig ernst genommen wurde. Kast gründete schließlich seine eigene Partei, die Republikaner. Dreimal bewarb er sich um das Präsidentenamt. Doch dieses Mal hat er seinen Diskurs verändert.

Inwiefern?
Der Politiker hat verstanden, wie er die Sorgen der Menschen ansprechen und instrumentalisieren kann. Deshalb trat er nicht mehr mit einem politischen Programm voller erzkonservativer Werte an, die in der inzwischen liberaler gewordenen Gesellschaft Chiles keine Mehrheiten mehr finden, sondern versprach eine „Law and Order“-Politik. Die wachsende Unsicherheit durch Bandenkriminalität ist das Thema, das die Chilenen laut Umfragen am meisten beschäftigt – auch wenn es bis heute eines der sichersten Länder des Kontinents ist.

Kast wird vermutlich autoritärer auftreten, viel Macht an sich binden, das Parlament bei Entscheidungen übergehen.

Francisca Quiroga, chilenische Politologin

Während der Siegesfeiern von Kast und seinen Anhängern waren mehrfach Bilder und Symbole der Diktatur zu sehen und Pinochets Name zu hören. Ist Chiles Demokratie in Gefahr?
Kast wird vermutlich autoritärer auftreten, viel Macht an sich binden, das Parlament bei Entscheidungen übergehen – anders als sein Vorgänger Boric regiert hat. Er wird dabei allerdings nicht gegen geltendes Recht verstoßen.

Denn der chilenische Staat ist qua Verfassung auf eine starke, neoliberale Führung ausgelegt. Es ist die Verfassung, die damals in der Militärdiktatur geschrieben wurde. Kast passt fast perfekt in diese Schablone. Er muss den Staat gar nicht mehr verkleinern, wie das neue rechte oder liberale Kräfte wie Milei oder auch US-Präsident Donald Trump wollen.

Chile ist nur das jüngste Beispiel einer ganzen Reihe lateinamerikanischer Länder, die in den vergangenen Jahren weiter nach rechts rückten: Argentinien und Ecuador 2023, Bolivien und – allem Anschein nach – Honduras in diesem Jahr. Rechte Regierungen in Paraguay und El Salvador wurden im Amt bestätigt. Das hat länderspezifische Gründe. Gibt es auch Gemeinsamkeiten?
Weltweit betreiben rechte Parteien sehr erfolgreich einen Diskurs, der mit der Angst der Menschen spielt. Auch in Lateinamerika. Zumal es in vielen dieser Länder tatsächlich ein Problem mit organisierter Kriminalität gibt.

Die Region erlebt außerdem seit geraumer Zeit eine Krise der Autoritäten – völlig egal, ob im politischen, religiösen, intellektuellen oder juristischen Sinne. Menschen haben das Vertrauen in Institutionen verloren. Diese Lücke haben rechte Kräfte geschickt gefüllt. Sie haben eine Erzählung gefunden, der die Menschen glauben.

Dabei birgt die Gegenwart doch auch Raum für linke Erzählungen: Viele Menschen in der Region kämpfen mit hohen Lebenshaltungskosten, Inflation, sozialer Ungleichheit.
Genau. Aber hier haben viele der linken Regierungen Vertrauen verspielt. Dort, wo sie regierten, haben Menschen feststellen müssen: Es ändert sich nichts an ihrer Lebenssituation. Der sozialdemokratische Präsident Gabriel Boric zum Beispiel führte eine sehr strenge Ausgabenpolitik, es gab kaum Veränderungen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Wohnen. Dafür aber wurde er gewählt.

Wenn die Linke an der Macht zum reinen Verwalter wird, verliert sie nicht nur sich selbst, sondern auch den Kontakt zum ärmsten Teil der Bevölkerung, ihrer Stammwählerschaft. Das ist in Chile passiert, in Lateinamerika, jedoch auch in Ländern wie Deutschland und Frankreich.

Was müssten sie anders machen?
Sie könnten sich tatsächlich etwas von der extremen Rechten abschauen: Die hält die Verbindung zu ihren Wählern über Wut, über ein gemeinsames Feindbild. Die Linke könnte über positive Emotionen wie Zuneigung oder Hoffnung mobilisieren. Ein Beispiel dafür, wie es gehen kann, ist Zohran Mamdani, der neue Bürgermeister von New York. Er hat eine attraktive Erzählung gefunden, die Menschen in ihrem Alltag abholt.

Wenn linke Parteien an die Regierung kommen, vergessen sie oft, die Beziehung zu ihrer Wählerschaft aufrechtzuerhalten. Sie müssten Reformen vorantreiben und eine Politik machen, die nicht nur in der Rhetorik bleibt, sondern tatsächlich im Leben der Menschen ankommt.

Regierungen wie die von Trump oder Milei schreiten sofort zur Tat, während sich linke Regierungen lange sortieren.

Francisca Quiroga, chilenische Politologin

Das machen rechte Regierungen besser?
Bei ihnen gibt es häufig keine so große Diskrepanz zwischen Worten und Taten. Regierungen wie die von Trump oder Milei zeichnen sich dadurch aus, dass sie sofort zur Tat schritten. In den ersten 100 Tagen ihrer Amtszeit ist bereits viel passiert. Linke Regierungen wiederum sortieren sich in dieser Zeit oft noch.

Im kommenden Jahr wird in Lateinamerika wieder gewählt: In Peru, Brasilien und Kolumbien werden dann neue Präsidenten antreten. Geht der Rechtsruck weiter?
Tatsächlich ist es sehr wahrscheinlich, dass der linke Präsident Gustavo Petro in Kolumbien von einer rechten Regierung abgelöst wird. Zwar hat er es geschafft, Menschen auf den sozialen Medien zu erreichen. Petro ist ein guter Redner.

Aber auch hier gibt es wieder eine Diskrepanz zwischen seiner Rhetorik und seiner Politik. Er hat viele Fehler gemacht, schlechte und ineffiziente Entscheidungen getroffen, unbeholfen und egoistisch gehandelt. Er kann nach kolumbianischem Gesetz ohnehin nicht wiedergewählt werden, hat aber auch kein linkes Projekt aufgebaut, das nach ihm weitergehen kann.

Und in Brasilien? Dort wurde der rechtsextreme Ex-Präsident Bolsonaro zu einer langen Haftstrafe verurteilt, weil er nach der Wahl 2022 versuchte, sich an die Macht zu putschen. Jetzt will sein Sohn Flávio sein Nachfolger werden.
In Brasilien ist die Ausgangslage etwas anders. Der amtierende Präsident Luiz Inácio Lula da Silva kann zwar wieder antreten, ist inzwischen allerdings 80 Jahre alt. Er hat die brasilianische Politik maßgeblich geprägt, seine Arbeiterpartei PT wird es nicht leicht haben, neben ihm neue Führungsfiguren aufzutun.

Aber sein politisches Projekt hat das Leben vieler Menschen verbessert, es kann ihn überleben. In den vergangenen Jahren hat sich das Vertrauen der Menschen in die brasilianischen Institutionen deutlich verbessert, nicht zuletzt wegen des Urteils gegen Bolsonaro. Die Justiz geht außerdem erfolgreich gegen Falschnachrichten in sozialen Medien vor. Die Rechten werden es dort schwerer haben.

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