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Das Minsker Abkommen von 2015 hat die Ukraine in eine benachteiligte Situation gegenüber Russland gebracht.

© Charles Platiau/Reuters

Lehren aus den Minsker Abkommen: Der gescheiterte Friedensplan hatte nie eine Chance

Europa war damals zu träge, sich Russland energisch entgegenzustellen. Doch solange die Ukraine unterlegen ist, hat Frieden keine Chance.

Ein Gastbeitrag von Pavel Slunkin

Russland hat in Europa einen großangelegten Eroberungskrieg begonnen. Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Russland hat internationales Recht brutal verletzt, international anerkannte Grenzen gewaltsam verschoben und fremdes Staatsgebiet annektiert.

In den annektierten Gebieten hat es brutal durchgegriffen: Die Zivilbevölkerung wurde unterdrückt, die regionale Kultur zerstört und die Gesellschaft mit Gewalt russifiziert. All das passierte lange vor dem 24. Februar 2022. Der Krieg hat viel früher angefangen. Und zwar in dem Moment, als russische Soldaten auf der Krim landeten, die ukrainische Halbinsel besetzten und in den Ostgebieten der Ukraine mit Hilfe ihrer Söldner einen militärischen Konflikt entfesselten.

Scharfe wirtschaftliche Sanktionspakete, Abkehr von russischer Energie, massenhafte Abwanderung westlicher Unternehmen aus Russland, Revision der bilateralen Abkommen mit Moskau, Waffenlieferungen und finanzielle Unterstützung für die Ukraine – all dies und noch viel mehr hätte schon vor neun Jahren passieren müssen. Ist es aber nicht.

Europa wollte es nicht wahrhaben

Das vollkommen überrumpelte Europa schien seine Komfortzone nicht verlassen und der neuen schrecklichen Wahrheit nicht ins Auge blicken zu wollen. Viele dachten damals, die Krim sei ein Sonderfall und im Osten der Ukraine werde vielleicht ein Bürgerkrieg und kein Eroberungskrieg geführt.

Dass man den offensichtlichen Tatsachen nicht ins Gesicht sehen und außerdem die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen, die jedes Jahr viele Milliarden Euro einbrachten, nicht aufs Spiel setzen wollte, äußerte sich in einer halbherzigen außenpolitischen Strategie. Zwar wurde Russlands Vorgehen scharf kritisiert, zugleich unternahm man aber nichts, um es zu unterbinden.

2015 trafen sich die Staats- und Regierungschefs von Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine in Minsk, um über Frieden zu verhandeln. Das Ergebnis der siebzehnstündigen Verhandlungen war das Minsker Abkommen. Jetzt wird dieses Dokument von allen Parteien auf das Schärfste kritisiert.

Minsk zwang Kiew zu zuviel Zugeständnissen

In der Ukraine, in Europa und in den USA meinen viele, dass das Abkommen für Kiew von vornherein nachteilig war, denn es zwang die Ukraine zu beträchtlichen Zugeständnissen gegenüber dem Aggressor. Moskau gab es den Spielraum für Manipulation und Erpressung und schrieb Russlands faktische Kontrolle über die besetzten Gebiete fest.

In Russland selbst wird das Minsker Abkommen häufig als Täuschung von Seiten des Westens dargestellt, da dieser „von Anfang an nicht vorhatte, die Vereinbarungen zu erfüllen“. Aus radikalen imperialistischen Kreisen wird Putin sogar vorgeworfen, er hätte damals schon mit der Ukraine kurzen Prozess machen müssen anstatt sich mit ihr an den Verhandlungstisch zu setzen.

Unter den gegebenen Bedingungen konnte aber nichts Besseres dabei herauskommen. Die Ukraine hatte keine Chance auf einen echten Frieden, weil sie nicht nur gegen Russland ankämpfen musste, sondern auch gegen die Trägheit der europäischen militärpolitischen Denkweise, an der alles abprallte. Es ist extrem wichtig, dass wir uns das jetzt bewusst machen, wenn in der Öffentlichkeit wieder der Ruf nach Frieden laut wird, von Seiten der Kritiker des aktuellen Kurses für die militärische Unterstützung der Ukraine.

Gibt es für die Ukraine jetzt eine Chance auf einen echten Frieden? Nein. Es kann sie gar nicht geben, denn in puncto Krieg und Frieden und bei Friedensverhandlungen haben Aggressor und Verteidiger von vornherein ungleiche Bedingungen. Der eine kämpft verzweifelt ums Überleben, während der andere sein Recht zu töten legalisieren möchte.

Die stabilen Zeiten der Politik sind vorbei

Es gibt erst dann eine Chance auf gerechtere Verhandlungen, wenn beide Seiten wenigstens annährend die gleichen Bedingungen haben. Wenn Russland die eroberten Gebiete zurückgegeben und seine Truppen von dort abgezogen hat. Wenn ukrainisches Gebiet nicht mehr beschossen wird und die von Russland entführten Kinder zu ihren Eltern zurückkehren.

Durch die ungleichen Bedingungen zwischen Aggressor und Verteidiger kann es für die Ukraine derzeit keinen echten Frieden geben.
Durch die ungleichen Bedingungen zwischen Aggressor und Verteidiger kann es für die Ukraine derzeit keinen echten Frieden geben.

© dpa/Vadim Ghirda

Das lässt sich auf zwei Wegen erreichen: Entweder lässt Russland freiwillig von seiner Politik ab oder die Ukraine erhält in vollem Umfang die Kräfte und Mittel, die Russland dazu bringen, dies zu tun. Deshalb sollten die Politiker, die zu Frieden aufrufen, sich damit nicht an Brüssel, Washington und erst recht nicht an Kiew wenden; sondern direkt an den Kreml, denn Letzterer ist der Einzige, der dem Frieden im Wege steht.

Während die Ukraine mit der Waffe in der Hand verzweifelt um ihr Existenzrecht kämpft, geht es manchen europäischen Politikern darum, eine andere Schlacht zu gewinnen – die Schlacht gegen die eigene Nostalgie, gegen die Sehnsucht nach den alten, komfortablen Zeiten.

Sie sollten die behaglichen Erinnerungen an jene stabilere und sicherere Vergangenheit begraben und nicht länger meinen, dass wir sie zurückbekommen, wenn die Ukraine territoriale, politische oder militärische Zugeständnisse macht.

Diese Zeiten sind unwiederbringlich vorbei. Und wenn wir wirklich einen stabilen und langfristigen Frieden wollen und keinen kurzzeitigen Waffenstillstand, der eines düsteren Morgens wieder von Geschützdonner durchbrochen wird, dann müssen wir alle unsere Kräfte für den Kampf gegen den Aggressor aufbieten. Und nicht für diplomatische Machenschaften mit dem Wort Frieden.

Aus dem Russischen von Valerie Engler

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