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Ein niederländischer Soldat vor dem Gebäude des Nato-Gipfels in Den Haag.

© AFP/Nicols Tucat

Nato drückt sich um Streitthemen: Was auf der Tagesordnung beim Gipfel fehlt

Beim Nato-Gipfel wird viel über Abschreckung und den Ausbau der Verteidigung gesprochen. Entscheidende Themen aber werden ausgeklammert – sie könnten womöglich das Ende des Bündnisses bedeuten.

Ein Gastbeitrag von Mattias Kumm

Stand:

Auf dem Nato-Gipfel an diesem Dienstag und Mittwoch werden unter anderem die Stärkung der Abschreckungs- und Verteidigungskapazitäten der Nato, die Erhöhung der Verteidigungsausgaben und der Ausbau der Verteidigungsindustrie sowie die Aufrechterhaltung der Unterstützung für die Ukraine zur Debatte stehen.

Das sind wichtige Themen. Allerdings gibt es drei Punkte, die auf der Tagesordnung fehlen.

Beistand der USA

Erstens steht die schwankende Position der Vereinigten Staaten im Hinblick darauf, was sie im Falle eines russischen Angriffs auf die Ostflanke der Nato tun würden, nicht auf der Agenda. Es ist zu beachten, dass das ein anderes Thema ist als die Frage, ob die Vereinigten Staaten Mitglied der Nato bleiben und ob sie ihren Verpflichtungen nach Artikel 5 nachkommen werden.

Artikel 5 verlangt, dass alle Mitgliedstaaten einen Angriff auf einen Mitgliedstaat als bewaffneten Angriff auf alle Mitglieder betrachten und dass jede Regierung die Maßnahmen ergreift, die sie für notwendig hält, um dem angegriffenen Bündnispartner zu helfen.

Demnach sind die Vereinigten Staaten nicht dazu verpflichtet, US-Truppen in einen konventionellen Krieg mit integrierten Streitkräften zu entsenden, auf den sich die Nato seit ihrer Gründung vorbereitet.

Ein kollektives Sicherheitsbündnis sollte sich von einer Ansammlung an Vasallen unterscheiden, die unter dem militärischen Schirm einer imperialen Macht Schutz suchen.

Matthias Kumm über die Nato

Wenn die Vereinigten Staaten stattdessen beschließen, dass sie es für ausreichend halten, die Seewege über den Atlantik offen zu halten, um sicherzustellen, dass die von den europäischen Mitgliedern in den Vereinigten Staaten beschafften Waffen ordnungsgemäß geliefert werden können, und sich ansonsten weigern würden, US-Truppen oder Ausrüstung ins Spiel zu bringen, wäre das kein offensichtlicher Verstoß gegen Artikel 5, auch wenn es im Widerspruch zu den bestehenden Erwartungen stünde.

Trumps Drohungen gegen Kanada und Dänemark

Zweitens steht nicht auf der Tagesordnung, dass das führende Mitglied der Nato, die Vereinigten Staaten, offen die Unabhängigkeit eines Mitgliedstaates (Kanada) und die territoriale Integrität eines anderen (Dänemark) bedroht hat.

Es ist offensichtlich, dass das Verständnis des Bündnisses als Gemeinschaft selbstbewusster, souveräner Staaten es erfordert, dass ein solch groteskes Fehlverhalten eines Mitgliedes, auch wenn es das mächtigste ist, nicht unbehandelt bleiben kann.

Ein kollektives Sicherheitsbündnis sollte sich von einer Ansammlung an Vasallen unterscheiden, die unter dem militärischen Schirm einer imperialen Macht Schutz suchen.

Dieser Unterschied ist in den Artikeln 1 und 2 des Nordatlantikvertrags niedergelegt, die die Nato fest in den Grundsätzen und Zielen der Vereinten Nationen verankern. Es wäre an der Zeit, dass sich die Mitglieder an diese Verpflichtungen erinnern und sich gegenseitig für deren Einhaltung verantwortlich halten.

Bekenntnis zum Völkerrecht

Dies führt zu einem dritten fehlenden Tagesordnungspunkt. Die Nato-Mitglieder wären gut beraten, ihre Position zu überdenken und ihr gemeinsames Bekenntnis zum Völkerrecht zu stärken, wie es in der Präambel und in Artikeln 1 und 2 des Nordatlantikvertrags betont wird. Ohne ein gemeinsames Bekenntnis zum Völkerrecht kann es kein stabiles und glaubwürdiges Nato-Bündnis geben.

Warum sollte ein Staat einen bewaffneten Angriff auf einen anderen Mitgliedstaat als einen Angriff auf sich selbst betrachten, wenn dieser nicht die Überzeugung teilt, dass eine nicht zu tolerierende Verletzung einer grundlegenden Norm des Völkerrechts vorliegt? Sofern dem Bündnis nur geostrategische oder wirtschaftliche Erwägungen zugrunde liegen, ist es dem Untergang geweiht.

Gerade in Zeiten der Krise und der Ungewissheit ist es wichtig, sich auf grundlegende Prinzipien zu besinnen, Orientierung zu finden und Klarheit darüber zu schaffen, wie die Dinge liegen und was zu tun ist.

Matthias Kumm über den Nato-Gipfel

Die Bewertung solcher Faktoren im hochdynamischen politischen Kontext der Gegenwart – im Gegensatz zu den Zeiten des Kalten Krieges – hängt stark von der jeweiligen ideologischen Ausrichtung einer Regierung ab und ist keine hinreichend belastbare Grundlage.

Es ist wahrscheinlich, dass die Diskussion dieser Punkte zu einer heftigen Auseinandersetzung führen würde und sogar das Ende der Nato als ein von den Vereinigten Staaten geführtes Bündnis beschleunigen könnte. Diese Fragen jetzt nicht zu stellen, würde die Situation indes nur noch schlimmer und die europäische Sicherheit noch prekärer machen, als sie ohnehin schon ist.

Wenn die europäischen Staaten im Begriff sind, ihre Verteidigungsausgaben deutlich zu erhöhen, wozu sie gute Gründe haben, müssen sie wissen, auf welche vorhandenen Ressourcen und Zusagen sie sich verlassen können und wofür sie selbst sorgen müssen, um unabhängige Kapazitäten zu gewährleisten.

Sofern die Vereinigten Staaten kein verlässlicher Teil des Bündnisses sind und Kerninteressen der Mitgliedstaaten stellenweise sogar feindlich entgegenstehen, sollten außerdem Waffensysteme nicht in den Vereinigten Staaten beschafft werden. Und auch die dauerhafte Präsenz von US-Stützpunkten auf europäischem Territorium wäre ein Thema, mit dem man sich auseinandersetzen müsste.

Gerade in Zeiten der Krise und der Ungewissheit ist es wichtig, sich auf grundlegende Prinzipien zu besinnen, Orientierung zu finden und Klarheit darüber zu schaffen, wie die Dinge liegen und was zu tun ist.

Ohne eine solche Klarstellung wäre die Sicherheit Europas noch prekärer. Und, was noch schlimmer ist, es gäbe wenig Hoffnung, durch erfolgreiches kollektives Handeln die Situation zu verbessern.

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