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Portadown letzte Woche: Ein Feuer brennt während Ausschreitungen nach einem mutmaßlichen Übergriff auf ein Mädchen.

© dpa/Brian Lawless

„Schiere Angst“ von Migranten: Rassistische Gewalt erschüttert Nordirland

Nordirland erlebt eine Welle rassistischer Gewalt. Ausgelöst durch einen Vorfall in Ballymena, breiten sich Unruhen aus. Migranten leben in Angst, Experten warnen vor Eskalation.

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Frauen und Kinder verstecken sich auf Dachböden, während Randalierer in ihren Häusern Brände legen. Migranten trauen sich nicht aus ihren Wohnungen. Kinder gehen nicht zur Schule. Nach einer Woche ausländerfeindlicher Gewalt und Angriffe auf die Polizei herrscht in Nordirland Angst.

„Es gibt bestimmte Gegenden, die ich nicht allein betreten oder durchfahren kann“, sagt Raied al-Wazzan. Er kam 1990 aus dem Irak nach Belfast und leitet stellvertretend den Nordirischen Rat für ethnische Gleichstellung, eine Dachorganisation für Minderheitengruppen. „Ich habe in diesen Gegenden gewohnt, aber heute ist es nicht mehr sicher für mich oder meine Familie oder Menschen mit anderer Hautfarbe.“

Angefangen hat die Gewalt in Ballymena, einer Stadt 45 Kilometer von Belfast entfernt. Auslöser war die Verhaftung zweier 14-jähriger Jungen am 7. Juni wegen des Verdachts, eine Teenagerin sexuell misshandelt zu haben. Die Identität der Beschuldigten, die die Vorwürfe bestritten, wurde nicht veröffentlicht. Aber bei der Gerichtsverhandlung wurde ein rumänischer Dolmetscher hinzugezogen. Damit fingen die Unruhen an. Von Ballymena breiteten sie sich auf andere überwiegend protestantische Arbeiterstädte aus. Betroffen waren Larne, Newtownabbey, Portadown und Coleraine. Diese Orte haben wirtschaftliche Probleme und sind gleichzeitig auf Migranten als Arbeitskräfte angewiesen.

Alte Konflikte, neue Opfer

Die Polizei bezeichnet die Ausschreitungen als rassistisch motivierte Hassgewalt. Angesichts der Geschichte Nordirlands ist das eine besonders gefährliche Entwicklung. Zwischen 1968 und 1998 starben im Nordirland-Konflikt zwischen katholischen irischen Nationalisten und protestantischen pro-britischen Loyalisten etwa 3.600 Menschen. Heute haben rassistisch motivierte Straftaten in Nordirland die sektiererische Hasskriminalität längst überholt. Polizeidaten zeigen, dass rassistische Verbrechen und Vorfälle in den zwölf Monaten bis Ende März die am schnellsten wachsende Form von Hasskriminalität waren und sektiererische Straftaten schon vor fast einem Jahrzehnt überholt haben.

„Die Ereignisse der letzten Woche kamen nicht aus dem Nichts“, sagt Patrick Corrigan, Direktor von Amnesty International in Großbritannien. „Wir haben ein ernstes Problem mit weit verbreiteter rassistischer Gewalt, die manchmal von paramilitärischen Organisationen angeheizt wird“, erläutert er. „Das ist ein besonders unheimliches Element in dieser Region, wo maskierte Männer auf Gewalt zurückgreifen, um Menschen zu sagen, wo sie leben dürfen und wo nicht.“ Und er fügt noch hinzu: „Ich glaube, wir sind nur eine Molotowcocktail von einem schweren Verlust an Menschenleben entfernt.“

Obwohl das Karfreitagsabkommen von 1998 zur Entwaffnung der großen militanten irisch-republikanischen und pro-britischen Organisationen führte, sind kleinere Splittergruppen weiter aktiv. Sie kontrollieren einige Nachbarschaften durch Einschüchterung, Erpressung und Drogenhandel. Diese Gruppen waren auch an rassistisch motivierten Angriffen beteiligt, wie die Independent Reporting Commission (IRC), die paramilitärische Aktivitäten überwacht, Anfang des Jahres mitteilte.

Professor Dominic Bryan von der Queens University Belfast sieht Parallelen zum früheren Konflikt, bei dem Katholiken und Protestanten gewaltsam aus Gemeinschaften vertrieben wurden, in denen sie eine Minderheit darstellten. „Sektierertum und Rassismus waren nie sehr verschieden voneinander. Sie sind eine Version der Ausgrenzung.“ Solche Vorurteile seien auch unter irischen Nationalisten zu beobachten. „Es überrascht mich nicht, dass sich mit dem Wandel der Gesellschaft in Nordirland, die sich in den letzten 30 Jahren stark verändert hat, auch einige dieser Ausgrenzungsmuster verschieben“, sagt Bryan.

„Rassismus wird nicht siegen“

Während in Nordirland insgesamt nur etwa sechs Prozent der Bevölkerung im Ausland geboren wurden, ist der Anteil der im Ausland geborenen Einwohner in Ballymena, wo die Unruhen begannen, deutlich höher. Er entspricht mit 16 Prozent dem britischen Durchschnitt. Nordirland hat keine spezielle Gesetzgebung mit Bezug auf Hassgewalt. Solche Taten werden im Rahmen der allgemeinen Strafgesetze verfolgt. Justizministerin Naomi Long will diese verschärfen. Doch die Regierung werde es nicht schaffen, vor den Wahlen 2027 ein eigenständiges Gesetz gegen Hassgewalt auf den Weg zu bringen.

Amnesty-International-Aktivist Corrigan berichtet von der „schieren Angst“ unter Migranten, die in WhatsApp-Gruppen, bei denen er Mitglied sei, zum Ausdruck komme. Die Menschen zögerten, ihre Häuser zu verlassen, um zur Arbeit zu gehen. Ihre Kinder hätten Angst, zur Schule zu laufen. Auch Nathalie Donnelly stellt das fest. Sie leitet einen wöchentlichen Englischkurs für Migranten. Die Hälfte ihrer Schüler bleibe inzwischen dem Unterricht fern, erzählt sie.

Trotz der Angst gibt es auch Widerstand. Ivanka Antova ist vor 15 Jahren aus Bulgarien nach Belfast gezogen und organisierte am vergangenen Samstag eine Anti-Rassismus-Kundgebung. „Ich bin entschlossen, mich nicht von meinem Zuhause vertreiben zu lassen“, sagt sie. „Rassismus wird nicht siegen.“ (Reuters)

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