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Tausende Jahre Haft für Erdogans Gegenspieler?: „Neue Dimension der autoritären Eskalation“
Die türkische Justiz versucht, die Oppositionspartei CHP und deren Hoffnungsträger Ekrem Imamoglu aus dem Weg zu räumen. Politisch ist er der gefährlichste Gegenspieler von Präsident Erdogan.
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Hohe Strafforderungen, dazu Vorwürfe wegen Korruption und Betrug – damit hatte die türkische Opposition gerechnet, als die Istanbuler Staatsanwaltschaft am Dienstag ihre Anklageschrift gegen den inhaftierten Präsidentschaftskandidaten Ekrem Imamoglu vorstellte. Aber dass die Ankläger gleich ein Parteiverbot der Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei; kurz: CHP) anregten, war dann doch eine Überraschung.
Für Istanbuls früheren Oberbürgermeister Imamoglu fordert die Anklage bis zu 2352 Jahre Haft. Die CHP, die seit den Kommunalwahlen im vorigen Jahr die stärkste politische Kraft in der Türkei ist, sei eine Gefahr für die Demokratie, erklärte die Istanbuler Anklagebehörde außerdem. Experten sprechen von einer „neuen Dimension der autoritären Eskalation“.

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Wie lokale Medien berichten, beschreibt die 3700 Seiten lange Anklageschrift Imamoglu als „Chef einer Verbrecherbande“. Als Bürgermeister der größten Stadt der Türkei soll er mit Untergebenen ein korruptes Netzwerk aufgebaut haben.
Seine „kriminelle Organisation“ – angeklagt sind 402 Verdächtige – sei auch des Betrugs und der Manipulation von Ausschreibungen überführt worden. Allein er selbst habe 142 Straftaten begangen, um sich zu bereichern. Außerdem soll der 54-Jährige die Macht in der CHP an sich gerissen und Geld für seine Präsidentschaftskandidatur gesammelt haben.
Einen Termin für den Prozess gibt es noch nicht. Imamoglu, der aussichtsreichste Kandidat gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan, war seit 2019 Bürgermeister von Istanbul. Im März wurde er seines Amtes enthoben und in Untersuchungshaft gesteckt.
Er und die CHP weisen die Vorwürfe in diesem und anderen Verfahren als politisch motiviert zurück; auch EU-Vertreter sehen die Ermittlungen als Versuch der Regierung, Erdogans aussichtsreichsten politischen Konkurrenten kaltzustellen.
Die türkische Regierung kann die Justiz beeinflussen, weil sie die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten entscheidet. Der leitende Staatsanwalt im Fall Imamoglu, Akin Gürlek, bezieht nach Angaben von CHP-Chef Özgür Özel ein Nebengehalt von einer staatlichen Bergbaufirma. Gürlek hingegen erklärte, das Gehalt sei ihm vor seiner Berufung ins Amt gezahlt worden.
CHP steht unter Verdacht „staatsfeindlicher Aktivitäten“
Auf der Grundlage ihrer Anklage gegen Imamoglu meldete die Staatsanwaltschaft in Istanbul am Dienstag zudem den Verdacht „staatsfeindlicher Aktivitäten“ der CHP an die Generalstaatsanwaltschaft in Ankara. Darin werden der CHP illegale Parteifinanzierung, Wahlmanipulation, Wählerbeeinflussung und Verstöße gegen die demokratische Ordnung vorgeworfen.
Diese Meldung sei laut Parteiengesetz vorgeschrieben und stelle keinen Antrag auf ein Verbot dar, erklärte die Istanbuler Anklagebehörde. Der Generalstaatsanwalt muss jetzt entscheiden, ob er ein Verbotsverfahren gegen die CHP einleitet, die mit 102 Jahren älteste Partei der Republik. Sie war zuletzt – wie andere türkische Parteien auch – nach dem Militärputsch von 1980 verboten worden.
Politiker der CHP reagierten entrüstet. Wenn eine Straftat vorliege, dann sei sie vom Staatsanwalt begangen worden, erklärte der Fraktionsvize im türkischen Parlament, Ali Mahir Basarir. Die Gefahr für die Republik gehe von der Anklagebehörde aus.
Wenn Opposition zur Straftat erklärt wird, ist autoritäre Entgrenzung nicht mehr hypothetisch – sie ist politischer Alltag geworden.
Hüseyin Cicek, Türkei-Experte an der Universität Wien
Basarir wies darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft die Vorwürfe von Erdogan gegen die politische Konkurrenz wortwörtlich übernommen habe. Der Präsident hatte die angeblich kriminellen Organisationen von Imamoglu als „Arme eines Kraken“ bezeichnet – exakt dieser Begriff stehe jetzt in der Anklageschrift, sagte Basarir.
In den vergangenen Monaten hatte die CHP bereits mehrere juristische Angriffe abgewehrt, die auf die Ablösung der derzeitigen Führung und die Einsetzung einer regierungsfreundlicheren Leitung abzielten. Nun muss sie befürchten, ganz verboten zu werden. Im türkischen Parlament liegen zudem Anträge auf Aufhebung der Immunität mehrerer Oppositionsabgeordneter vor, darunter auch die von Parteichef Özel.
Die Ermittlungen „markieren den Versuch, demokratische Opposition in der Türkei systematisch zu kriminalisieren und institutionell auszuschalten“, sagt Hüseyin Cicek, Türkei-Experte an der Universität Wien und an der Sigmund-Freud-Universität in der österreichischen Hauptstadt.
„Eine Anklage mit mehr als 2300 Jahren Haftforderung offenbart nicht etwa eine entschlossene Strafverfolgung, sondern eine kalkulierte politische Strategie: die Eliminierung eines glaubwürdigen Herausforderers durch juristische Mittel“, sagt Cicek dem Tagesspiegel.
Dass parallel ein Verbotsverfahren gegen die CHP drohe, „zeigt die neue Dimension der autoritären Eskalation“, analysiert Cicek. Die Justiz stehe unter dem Verdacht, im Sinne der Regierung zu handeln. „Das sendet ein gefährliches Signal weit über die Türkei hinaus: Wenn Opposition zur Straftat erklärt wird, ist autoritäre Entgrenzung nicht mehr hypothetisch – sie ist politischer Alltag geworden.“
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