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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gerät unter Druck.

© Imago/Zuma Press/Ukrainian Presidency

Tonaufnahmen belasten Selenskyjs Umfeld: So gefährlich ist der Korruptionsskandal für den ukrainischen Präsidenten

Neue Enthüllungen über illegale Geschäfte im Energiesektor erschüttern die Ukraine. Könnte der Präsident ausgerechnet über Machenschaften seines engsten Vertrauten stürzen?

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„Che Guevara“, „Tenor“, „Professor“ und „Sugarman“ – das sind keine Figuren aus einem Kriminalroman, sondern die Decknamen realer Personen, von ehemaligen oder amtierenden hohen Beamten der Ukraine.

Das Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine (Nabu) hat Tonaufnahmen veröffentlicht, auf denen zu hören ist, wie sie über Schmiergeldsysteme im Energiesektor und die anschließende Geldwäsche von Millionenbeträgen sprechen.

Nach Angaben von Ermittlern soll die kriminelle Gruppe die Kontrolle über das staatliche Energieunternehmen Energoatom übernommen haben. In einer der Aufnahmen ist sogar von Plänen die Rede, Gelder zu veruntreuen, die eigentlich für den Bau von Schutzeinrichtungen an Energieanlagen vorgesehen waren.

Die Aufnahmen lösten Empörung aus – besonders angesichts neuer massiver russischer Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur. Dementsprechend kommt auch aus dem Militär scharfe Kritik. „Menschen, die während des Krieges ,Geschäfte’ machen, sind […] Staatsverräter und Plünderer, die in Gruben sitzen sollten, anstatt in ihren eigenen Flugzeugen um die Welt zu jetten“, schrieb etwa der Offizier Mykola Melnyk bei Facebook.

Der Soldat Bohdan Butkewytsch ist ähnlicher Meinung: „So werden Kriege verloren. Wenn die eigene Gier, Engstirnigkeit und Dummheit der Führung den Heldenmut des besten Teils des Volkes zunichtemachen.“

Mutmaßlicher Chef der kriminellen Organisation ist laut Nabu Tymur Minditsch, Deckname „Karlson“. Er hat – anders als seine mutmaßlichen Mitstreiter – nie ein öffentliches Amt bekleidet, gilt jedoch als Freund und ehemaliger Geschäftspartner von Präsident Wolodymyr Selenskyj aus dessen Zeit in der Unterhaltungsbranche. Minditsch soll sich – wie auch andere Verdächtige – inzwischen ins Ausland abgesetzt haben.

Einer breiten Öffentlichkeit wurde er im Sommer bekannt – mitten in dem Versuch des Präsidenten, die Befugnisse der Antikorruptionsbehörden einzuschränken. Eine Recherche der Plattform Ukrajinska Pravda deckte damals auf, dass Selenskyj in Minditschs Wohnung, die sich direkt neben der des Präsidenten befindet, im engen Kreis vertrauliche Themen besprochen hatte.

Medienberichten zufolge könnte die Wohnung vom Nabu im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens abgehört worden sein. „Die Angst vor einer möglichen Veröffentlichung dieser Aufnahmen war der wahre Grund für die scharfen Attacken des Präsidentenbüros auf das Nabu“, sagt der Leiter der Organisation Zentrum für Korruptionsbekämpfung, Witalij Schabunin.

Nur unter dem Druck westlicher Partner und durch Massenproteste in Kyjiw sei es damals gelungen, die Unabhängigkeit der Behörde zu bewahren. „Andernfalls wäre diese Ermittlung nie zu Ende geführt worden“, sagte Schabunin dem Tagesspiegel.

Schmiergeldzahlungen bei öffentlichen Ausschreibungen gehören zu den beliebtesten Korruptionspraktiken ukrainischer Beamter.

Witalij Schabunin, Leiter der Antikorruptionsorganisation Zentrum zur Korruptionsbekämpfung

Es ist einer der bislang größten Korruptionsskandale in der Ukraine, seit Selenskyj Präsident ist. Allerdings wäre es übertrieben, von einem beispiellosen Fall in der Geschichte des Landes zu sprechen.

„Schmiergeldzahlungen bei öffentlichen Ausschreibungen gehören zu den beliebtesten Korruptionspraktiken ukrainischer Beamter – einfach in der Durchführung und über Jahre hinweg perfektioniert“, sagt Schabunin. Im Unterschied zu früheren Fällen gehe es dieses Mal aber um eine Branche, die seit Monaten das Hauptziel russischer Angriffe ist.

Ob der Präsident selbst über die Vorgänge informiert war oder sie hinter seinem Rücken passierten, bleibt offen. Schabunin glaubt, dass eine derart systematische Korruption nur mit politischer Rückendeckung auf höchster Ebene möglich sei. Es sei aber auch denkbar, dass manche der Beteiligten eigenmächtig gehandelt haben.

Und wenn er tatsächlich nichts davon wusste, stellt das seine Fähigkeit, den Staat zu führen, ernsthaft infrage.

Serhij Rudenko, Politikjournalist, über Selenskyjs Rolle in der Korruptionsaffäre

Anders sieht es der Politikwissenschaftler und Selenskyj-Biograf Serhij Rudenko: „Es fällt schwer zu glauben, dass Selenskyj, der Parlament, Regierung und Sicherheitsorgane unter Kontrolle hat, nichts davon wusste, wer in seinem Land Hunderte Millionen Dollar wäscht“, sagt er dem Tagesspiegel. „Und wenn er tatsächlich nichts davon wusste, stellt das seine Fähigkeit, den Staat zu führen, ernsthaft infrage.“

In jedem Fall trage der Präsident die politische Verantwortung für sein Umfeld, das seine Autorität zunehmend untergrabe. „Er hat das Vertrauen, das ihm einst einen echten Neuanfang ermöglicht hätte, nie genutzt“, sagt Rudenko. „Selbst wenn er jetzt sein Team radikal erneuert und einen Kreuzzug gegen die Korruption ausruft, ist es schon schwer, das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen.“ Die Chancen auf eine Wiederwahl dürften gering sein, glaubt Rudenko.

Der Politikwissenschaftler Witalij Kulik sieht das gelassener. Er will das politische Schicksal des Präsidenten noch nicht endgültig beurteilen – der Skandal, meint er, könne noch eine ganz unerwartete Wendung nehmen.

„Offensichtlich ist das die erste Episode einer neuen Serie. Wie sie weitergeht, hängt davon ab, wie rasch die Ermittlungen vorankommen – und vor allem, was auf den noch unveröffentlichten Aufnahmen zu hören ist“, sagt Kulik.

Bisher ist nur ein winziger Teil der angeblich rund tausend Stunden umfassenden Aufnahmen bekannt. Die Ermittler haben bereits mitgeteilt, dass es darin nicht nur um Korruption im Energiesektor, sondern auch um mutmaßliche Unregelmäßigkeiten im Verteidigungsbereich geht.

USA beobachten Arbeit der Antikorruptionsbehörde

Kulik hält es nicht für ausgeschlossen, dass die Veröffentlichung der Tonaufnahmen mit der US-Regierung abgestimmt wurde. Schließlich waren es die Vereinigten Staaten, die 2014 auf die Gründung der Antikorruptionsbehörde bestanden und deren Arbeit seither aufmerksam verfolgen.

„Auf diese Weise erhält Washington ein zusätzliches Druckmittel gegenüber Selenskyj, der sich weigert, mit Moskau Kompromisse einzugehen, die als erniedrigend für die Ukraine wahrgenommen werden könnten“, sagt der Experte.

Der Skandal dürfte die Verhandlungsposition Kyjiws schwächen – und kommt Wladimir Putin gelegen.

„Der Kremlchef wünscht sich nichts mehr als eine innere Destabilisierung der Ukraine. Dennoch ist Selenskyjs Position im Land derzeit noch zu gefestigt, als dass die reale Gefahr seiner Entmachtung bestünde“, fügt Kulik hinzu.

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