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Parade der Panzerwracks in Kiew: Am eigenen Unabhängigkeitstag feiert Kiew sich vor allem selbst.

© AFP/Roman Pilipey

Ukraine feiert 32 Jahre Unabhängigkeit: Der Wille zum Sieg ist ungebrochen

An ihrem Unabhängigkeitstag feiert die Ukraine vor allem sich selbst – und ihren unerschütterlichen Siegeswillen. In Kiew werden dafür erbeutete russische Panzer zur Schau gestellt. Doch die Bevölkerung sorgt sich vor dem Winter.

Von Denis Trubetskoy

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Vor einem Jahr hat die Ukraine zum Unabhängigkeitstag am 24. August, der zudem damals genau ein halbes Jahr und nun anderthalb Jahre der vollumfänglichen russischen Invasion markierte, massive Luftangriffe durch Russland erwartet. Diese kamen dann tatsächlich, auch wenn bei weitem nicht im befürchteten Ausmaß.

In diesem Jahr hat sich das Blatt der Erwartungshaltung gedreht.

Zwar blieb die Sorge vor russischem Beschuss, die allermeisten öffentlichen Veranstaltungen wurden deswegen abgesagt. Sowohl in Kiew als auch in Moskau wurde aber aktiv spekuliert, dass am Donnerstagmorgen plötzlich mehr als nur vereinzelte Drohnen Richtung Russland unterwegs sein könnten.

Putins Geschenk an die Ukraine

Kryptische Videos, deren Ursprung womöglich den ukrainischen Geheimdiensten zugeordnet werden könnten, haben seit Monaten diese Erwartung gefördert.

Ob es sich dabei nur um eine psychologische Kriegsführung handelte oder die Ukrainer die Aktion bewusst verlegten, um medial nicht von der mutmaßlichen Tötung des Chefs der Söldntertruppe Wagner Jewgenij Prigoschin überschattet zu werden, ist unklar. Beides ist durchaus denkbar.

Der Ukraine ist es aber trotzdem gelungen, sowohl zum Tag der Nationalflagge am 23. August sowie zum Unabhängigkeitstag Zeichen zu setzen. Während am Vortag die Zerstörung eines Flugabwehrsystems der Klasse S-400 auf der annektierten Krim viel Anklang fand, begeisterte am Donnerstag eine kleine, offenbar erfolgreiche amphibische Landungsoperation des ukrainischen Militärgeheimdienstes im Westen der Halbinsel soziale Netzwerke.

Die eingesetzten Ukrainer dürften die Krim ohne Verluste verlassen und dabei die ukrainische Fahne auf ein unbekanntes Gebäude aufgehängt haben.

Auf der Prachtstraße Chreschtschatyk im Zentrum der Hauptstadt, die in diesem Jahr wieder für die Woche des Unabhängigkeitstages wegen einer Aufstellung der zerstörten russischen Militärtechnik gesperrt wurde, hat aber selbstverständlich auch das Thema Prigoschin eine Rolle gespielt. Scherze über „Putins Geschenk“ zum ukrainischen Feiertag haben die Runde gemacht.

„Ich glaube, kein Mensch auf der Welt wäre überrascht, sollte der Typ jetzt tatsächlich tot sein. Es war ganz klar eine Frage der Zeit“, sagt der mitteljährige Dmytro, der mit der Familie unterwegs ist, was viele in der Stadt denken. „Ich werde heute Abend auf seinen Tod anstoßen. Wir müssten uns aber bei aller Unterhaltung vor allem auf sich selbst konzentrieren.“

Hohes Vertrauen in die Armee

Obwohl in Zeiten des Kriegsrechts nahezu alle Feiertage eigentlich reguläre Arbeitstage sind, ist es eine fast feierliche Atmosphäre, die an diesem Donnerstag herrscht. Gefühlt die Hälfte der Kiewer trägt Kleidung mit Wyschywanka, dem traditionellen ukrainischen Stickmuster. Fast alle Cafés und Restaurants schenken ihren Gästen ein Glas Sekt oder Wein.

Jüngere als auch ältere Kiewer lassen sich vor ausgebrannter russischer Technik fotografieren – ganz egal, ob es sich um Haubitzen oder Kampfpanzer handelt. Im Vergleich zum vergangenen Jahr wurde die Zusammensetzung der Aufstellung noch durch abgefangene russische Drohnen erweitert.

Ich werde heute Abend auf seinen Tod anstoßen.

Der Kiewer Dmytro über den Tod Jewgenij Prigoschins am Vortag des ukrainischen Unabhängigkeitstags.

Auch aktuelle Umfragen zeigen, dass der Siegeswille der Ukrainer mehr als eineinhalb Jahre nach Kriegsbeginn weiter ungebrochen zu sein scheint. Ergebnissen des Meinungsforschungsinstituts Rating Group zufolge sind etwa Dreiviertel der Menschen in der Ukraine stolz auf ihr Land.

90,4
Prozent der Ukrainer lehnen sämtliche territoriale Kompromisse mit Russland ab.

Laut einer Studie der Stiftung Demokratische Initiativen lehnen mehr als 90 Prozent der Einwohner des Landes sämtliche territoriale Kompromisse mit Russland ab. Auch das Vertrauen in die eigene Arme ist trotz mitunter herber Kriegsverluste weiterhin hoch. Neun von zehn Befragten sind mit dem eigenen Militär zufrieden. Ähnliche hohe Zustimmungswerte bekommt Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.

Tatsächlich gibt es keine Anzeichen, dass sich diese Grundstimmung in absehbarer Zeit bedeutend ändert könnte. Bei ihrer Gegenoffensive im Süden erreichte die ukrainische Armee gerade in vergangenen Tagen wichtige Kleinerfolge.

Angst vor einer Mobilmachung

Die überhitzten Erwartungen führten zugleich zu einer gewissen Enttäuschung. Militärische Operationen sorgen gleichzeitig unvermeidlich für Verluste – und so steigt insbesondere bei der männlichen Bevölkerung die Angst vor einer möglichen Mobilmachung.

Trotz Feier auf der Prachtstraße: Schon jetzt sorgen sich viele Menschen in Kiew und im Rest des Landes vor dem Winter und einem neuen Beschuss auf ukrainische Energieanlagen. „Wir befinden uns in einer schweren, mehrdeutigen Kriegsphase, in der eine gewisse Müdigkeit selbstverständlich zu spüren ist“, schätzt der Politologe Wolodymyr Fessenko vom Zentrum für angewandte politische Forschung Penta in Kiew ein.

„Aber es wäre verwunderlich, wenn es diese Müdigkeit nicht gegeben hätte. Das Konsolidierungsniveau ist aber stets hoch – und wir haben gar keine Wahl als Russland gegenüber weiter dagegenzuhalten.“

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