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Moritz Rinke

© dpa

Moritz Rinke: 270 Mal bei Rot über die Ampel!

Ganz Deutschland diskutiert über eine Doktorarbeit. Moritz Rinke über bewusste und unbewusste Fehler, fallende Fußballer und Kanzler-Kandidaten.

Schade, dass es bei den Fragestunden im Bundestag immer nur um parteitaktische Angriffe und Verteidigungen geht und nie um entspannte, nachdenkliche, vielleicht sogar philosophische Betrachtungen! Zum Beispiel so eine: Ein Mann fährt mit dem Auto zur Arbeit, hat Angst, dass er zu spät kommt, und als er ankommt, wird ihm deutlich, dass er das rote Licht einer Ampel unbeachtet ließ. Man nennt so etwas vielleicht eine unbewusste Wahrnehmung. Was aber, wenn der Mann auf seinem Weg 270 rote Ampeln unbeachtet lässt?

Bei der ersten kann man noch sagen, okay, er hatte morgens die Kinder schulfertig machen müssen, dann saß er vielleicht noch kurz an seiner Doktorarbeit, suchte eine Fußnote und musste dann schnell zur Arbeit. Der Kopf ist voll, spät dran, klar, also bei Rot mit unbewusster Wahrnehmung über die Ampel, das ist entschuldigt. Aber 270 Mal?

Wenn schon ein ganzes Land über eine Doktorarbeit debattiert, dann wäre doch die durchaus geisteswissenschaftliche Frage interessant, wie jemand sagen kann, er habe "nicht bewusst getäuscht", sondern nur 270 mal hintereinander "unbewusst"?

Bei einer unbewussten Täuschung ist auch dem Täuschenden die Täuschung nicht bewusst. Man denkt dabei vielleicht eher an die Zeugen Jehovas; oder an italienische Fußballer, die zu Boden fallen und einen Elfmeter wollen. Eine Erklärung wäre hier das sogenannte "Selbstmissverständnis" über das eigene Handeln, man würde also einem täuschenden Konsens unterliegen und einfach 270 Mal unbewusst über die rote Ampel fahren oder 270 Mal im Strafraum mir nichts dir nicht hinfallen, um jedes mal einen Elfmeter zugesprochen zu bekommen. (Das mit dem "Selbstmissverständnis" habe ich übrigens bei Karl Jaspers oder Jürgen Habermas abgeschrieben!)

Den Zeugen Jehovas nimmt man so ein Selbstmissverständnis ab, vielleicht auch noch den italienischen Fußballern. Aber einem Politiker aus hohem Hause, der auch noch Bundeskanzler werden will? Oder konkret gefragt: Was ist besser, ein Bundeskanzler der 270 Mal bewusst oder der unbewusst täuscht und Fehler macht?

Der 270 mal unbewusst täuschende oder fehlermachende Bundeskanzler wäre vielleicht sympathischer, aber offen gestanden würde ich mir Sorgen machen: heute sind es die Ampeln und die akademischen Fußnoten, morgen die Atomprogramme, Kriegserklärungen des Iran oder der ultimative Börsencrash. Wie soll das gehen mit einem Mann, der dafür bekannt ist, in Serie unbewusst Fehler zu begehen? Dann vielleicht doch lieber den bewusst täuschenden und Fehler machenden Bundeskanzler?

Es kann natürlich sein, dass einer auf dem Karriereweg zum Bundeskanzler soviel bewusst täuschen muss und sich daher nach einem Zustand des Unbewussten sehnt. Bewusst heißt ja, man erlebt etwas und kann sich auf dieses Erleben später bewusst beziehen. Und vielleicht ist ja genau das unerträglich: sich aller Lügen, Tricks, Täuschungen, Fehler, Vergehen ständig bewusst zu sein? Vielleicht muss ein Politiker, der Bundeskanzler werden will, wirklich das Lügen und Tricksen in etwas "zu jeder Zeit Unbewusstes" transferieren oder wegsperren, sonst würde er sich selbst ein Monstrum werden und vor Selbstekel zerbrechen? Und ist das dann der einzige Weg, um den "Erfolg" noch irgendwie zu genießen?

Vielleicht ist es wie mit dem "Bildnis des Dorian Gray". Was Oscar Wilde da vor über hundert Jahren geschrieben hat, ist vielleicht auch der Roman über Karl-Theodor zu Guttenberg. Der strahlende Jüngling lebt und strahlt dahin im Glanz, aber sein weggesperrtes Bildnis hat nun die ersten schlimmen Umrisse der Fratze. PS: Und Schiedsrichterin Merkel gibt jeden der 270 unberechtigten Elfmeter!

Moritz Rinke lebt als Schriftsteller und Dramatiker in Berlin. Zuletzt erschien von ihm der Roman "Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel" (Kiepenheuer & Witsch, 2010).

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