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Gesche Würfels Reise an der ehemaligen Mauer entlang begann am Brandenburger Tor.

© Gesche Würfel, VG Bild Kunst 2025

Alle 2,8 Kilometer: Die Fotografin Gesche Würfel und ihr Buch zur Berliner Mauer

Gesche Würfels Band „Die An- und Abwesenheit der Berliner Mauer“ wird im Künstlerhaus Bethanien vorgestellt. Die Wahl-New Yorkerin hat einen unkonventionellen Blick.

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Braucht es noch ein Buch über die Berliner Mauer, gibt es nicht schon genug Literatur, Filme und Bilder von der Mauer zu allen möglichen Zeiten? Was genau kann man hinzufügen, fragt man sich bei Gesche Würfels Publikation „Die Ab- und Anwesenheit der Berliner Mauer“, die jetzt im Distanz Verlag erscheint und am Donnerstag in der Bibliothek des Künstlerhauses Bethanien vorgestellt wird. Die Fotografin, Künstlerin und Raumplanerin Gesche Würfel, die in New York lebt und lehrt, wird über ihre Beweggründe zum Projekt sprechen.

Die Idee sich mit der Mauer zu beschäftigen, insbesondere mit dem, was von ihr nicht mehr zu sehen ist, stammt aus den Jahren 2021/22 als Würfel Stipendiatin am Künstlerhaus Bethanien in Berlin war. Die fotografische Idee: Würfel radelte entlang des 160 km langen Berliner Mauerwegs und hielt alle 2,8 km an, um Bilder zu machen. Jede Station steht symbolisch für ein Jahr der Mauerexistenz – also 28 Jahre.

Mit dem Rad auf dem Mauerweg

In diesem konzeptuellen Modus arbeitete Würfel bereits bei vorherigen Projekten, etwa als sie Orte, die mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust in Verbindung stehen, fotografiert hat. Die Bilder hat sie stellvertretend für jedes Jahr, das zum Zeitpunkt der Aufnahme seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen war, eine Sekunde lang überbelichtet.

Würfel, 1976 in Bremerhaven geboren, scheint sich weniger aus biografischen als aus soziologisch- visuellen Gründen der ehemaligen innerdeutschen Grenze zu nähern. Sie interessiert sich für die Architektur an Original-Schauplätzen, die im Laufe der Zeit überformt, überbaut oder überwuchert wird, während die Erinnerungen in den Köpfen bestehen bleiben.

So ist es konsequent, dass ihr Buch auf den ersten 100 Seiten nur aus doppelseitigen Panoramabildern besteht, die einen transitorischen Zustand visualisieren. Es sind jeweils mehrere übereinandergelegte Aufnahmen der mit der 2,8-Kilometer-Logik fotografierten ehemaligen Mauerstandorte.

Pro Standort hat Würfel sechs Aufnahmen gemacht, jeweils nach vorn und nach hinten gerichtet, in den Himmel und auf den Boden, nach rechts und nach links. Man sieht etwa das Straßenschild der Bernauer Straße, überlagert von Fassaden der Nachwendewohngebäude, mit Tram-Bahn davor und einem Schleier aus Himmel; oder das Brandenburger Tor, in dem sich gleichzeitig die Siegessäule und der Fernsehturm zeigen.

Außerdem viel Wald entlang des grünen Bandes oder Wohngegenden mit Straßenlaterne und Jägerzaun. Für Leser, die keine biografischen Anknüpfungspunkte haben, sind Würfels Lentikularbilder vielleicht nur interessante Wackelbilder. Was sich durch die Aufnahmen aber vermittelt ist, wie brachial die ehemalige innerdeutsche Grenze Lebensräume durchschnitt, sie trennte Berlins historische Mitte genauso wie Wohnstraßen oder den Wald. 

Der zweite Teil des Buches besteht, neben einem ausführlichen Aufsatz der Leipziger Journalistin und Kunsthistorikerin Sarah Alberti aus Gesprächen mit Zeitzeugen, Nachwendegeborenen, Politikern und einer Frau, die in Marzahn vietnamesische Vertragsarbeiter betreute. Würfel hat sich etwa mit Thomas Raufeisen unterhalten, der als Jugendlicher wegen der Spitzeltätigkeit seines Vaters in Westdeutschland unfreiwillig in die DDR eingebürgert wurde und später bei der Flucht mit der ganzen Familie verhaftet wurde. Oder mit einem jungen Berliner, der als Kind jeden Tag am ehemaligen Mauerstreifen entlang zur Schule fuhr.

Diese völlig unterschiedlichen Verbindungen zur ehemaligen DDR-Grenzbefestigung kombiniert sie visuell mit Material aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv. Man erfährt zwar nichts, was man nicht anderswo schon genauso hätte lesen können und doch ist Würfels Blick speziell.

Es ist der Blick einer ausgewanderten New Yorkerin, die mit soziologischer Neugier und einer gehörigen Distanz auf die deutsche Teilung schaut – aber auch als Künstlerin, die mit ihrer konzeptionellen Fotografie bekannte Erzählungen visuell befreit.

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