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Der Literaturkritiker und Autor Dirk Knipphals

© Josef Cramer / Rowohlt

Romandebüt von Dirk Knipphals: Alle Leben sind schwierig

Porträt des Kritikers als junger Mann: Dirk Knipphals’ literarisches Debüt „Der Wellenreiter“ ist ein klug erzählter Generations- und Künstlerroman.

Von solchen Schülern können Deutschlehrer nur träumen: ein 15-Jähriger, der Max Frisch und Uwe Johnson liest, sich zum Geburtstag nichts sehnlicher wünscht als Kindlers 25-bändiges Literaturlexikon und der sich dann, man reibt sich die Augen, beim Buchhändler auch noch eine Robert-Musil-Gesamtausgabe bestellt. Wäre Dirk Knipphals’ Roman im Jahr 2018 angesiedelt, man würde über solch einen Protagonisten nur ungläubig lachen. Aber „Der Wellenreiter“ spielt 1980, und selbst in dieser Zeit ist ein literaturbesessener Pubertierender wie Albert Schwingenholtz, dessen Schubladen schon voll von ersten eigenen Schreibversuchen sind, für seine Mitschüler ein rechter Freak.

Nicht dass Albert keine Freunde hätte; dazu ist der Lehrersohn wiederum doch zu normal. Zu seinem Bedauern markieren weder eine Narbe noch feuerrotes Haar für jeden sichtbar seinen Status als Außenseiter, der für Höheres vorgesehen ist. Von Letzterem ist Albert, trotz des alterstypischen Schwankens zwischen Unsicherheit, Selbstzweifel und Größenfantasien, durchaus überzeugt. In einer großartigen Szene schafft er sogar schon einmal Platz im väterlichen Bücherregal, eine „Lücke“ zwischen Schnitzler und Shakespeare.

Soziotop der gehobenen Mittelschicht

„Der Wellenreiter“ ist Knipphals’ erster Roman. Man darf vermuten, dass in das späte literarische Debüt des 1963 geborenen Literaturredakteurs der „taz“ manch Biografisches eingegangen ist. Historisch und sozial lässt sich das Buch jedenfalls genau lokalisieren. Es ist die Zeit des Nato-Doppelbeschlusses und der Hausbesetzungen, Ede Zimmermann geht auf Verbrecherjagd und die aufmüpfige Jugend demonstriert gegen das Atomkraftwerk Brokdorf.

Der Ort des Geschehens: eine typische Vorortsiedlung irgendwo im Norden der alten Bundesrepublik. Es ist das Soziotop der gehobenen Mittelschicht, die sich hier den Lebenstraum vom Eigenheim erfüllt hat, mit „großen Fenstern zum Glückliche-Kinder-Überwachen“, wie Alberts Beinahe-erste-Freundin Katrin spottet. „Hier gibt es nur normal.“ Die Realität hinter den Gardinen sieht freilich anders aus. Die Väter erarbeiten sich in ihren Büros ihren ersten Herzinfarkt, während unter den frustrierten Müttern John Updikes „Ehepaare“ und Svende Merians „Der Tod des Märchenprinzen“ zirkulieren, sofern man sich nicht gleich mit einer Affäre tröstet.

„Null Bock“ ist gerade angesagt

Und der Nachwuchs? Der würde, „Null Bock“ ist schließlich gerade angesagt, am liebsten wie die rebellische Katrin alles mit einem Maschinengewehr niedermähen. Einstweilen wirft man sich Drogen ein und träumt von Flucht aus der genormten Tristesse in die Großstadt, am besten natürlich nach Berlin. Warum aber findet ausgerechnet der hippe Felix aus Berlin diesen Vorort so heimelig, dass er am Ende des Romans sogar hierherziehen wird?

Immer wieder werden in diesem Roman scheinbare Gewissheiten des jugendlichen Protagonisten infrage gestellt, ob es um das Erwachsensein geht, die Liebe oder die Literatur. Wozu zum Beispiel der ganze „Selbstbefragungszinnober“, wenn das Schreiben am Ende doch nur ein Beruf wie jeder andere ist? Warum ist Albert das Schreiben überhaupt so wichtig? Danach gefragt, kann der Nachwuchsautor nur angelesene Phrasen aus der „Zeit-Bibliothek der 100 Bücher“ repetieren. Felix’ Verdacht, Albert wolle halt letztlich nur kein „Sichdurchslebenwurstler wie wir anderen“ werden, trifft genau seinen wunden Punkt.

Sanft melancholischer Ton

„Der Wellenreiter“ ist vieles: ein klug erzählter Initiations-, Generations- und Künstlerroman, eine anspielungsreiche Geschichte über die alte BRD und über die Literatur. Vor allem aber ist es ein in einem sanft melancholischen Ton gestimmtes Buch über das Leben. Gleich zu Beginn findet sich, nur leicht versteckt, eine Lektüreanweisung, die man ernst nehmen sollte. Eben hat Albert, nachdem er mit Kafkas „Amerika“ begonnen hat, voller Stolz etwas Wichtiges begriffen: Es ist zu einfach und naiv, sich beim Lesen immer nur mit dem Helden identifizieren zu wollen.

Denn Kafkas in New York angekommener Protagonist Karl Roßmann, so Albert, „war bereits da, in seinem neuen Leben, und dann war er doch noch nicht wirklich da – weil man sein bisheriges Leben eben nicht so schnell hinter sich lassen kann! Genau das war es, was man an diesem Anfang verstehen musste.“ Ebendiese Einsicht gilt auch für Knipphals’ „Der Wellenreiter“: Albert ist zu Romanbeginn da und eben noch nicht wirklich da; er muss die Reifeleistung, die ihm seit dieser Nacht im Lesen gelingt, im realen Leben erst noch erbringen.

Nebenfigur im Roman des Lebens

Das wird gerade im Verhältnis zu seinen engsten Freunden deutlich, ob zu der sich tatsächlich nach Berlin absetzenden Katrin oder zu dem Millionärssohn und Surfer Martin, dem im Lauf des Romans alle Selbstverständlichkeiten abhandenkommen werden. Und der, fürs Leben versehrt und von den Eltern ins Internat abgeschoben, zu Alberts Erstaunen plötzlich selbst zu schreiben beginnt, und zwar keine Kafka-Imitate, sondern authentische Literatur.

Der Roman heißt eben mit gutem Grund „Der Wellenreiter“, entpuppt sich der scheinbar sorgenfreie Martin doch letztlich als die interessantere, weil gebrochenere Figur. Dagegen muss sich Albert am Ende eingestehen, dass eben nicht nur sein Leben, sondern „jedes Leben auf seine eigene Art schwierig ist“. Und dass man auch im Roman des Lebens nicht automatisch immer der Held ist, sondern allzu oft nur eine Nebenfigur. Aber wer weiß, vielleicht prädestiniert ja gerade diese Eigenschaft zum Schreiben?

Dirk Knipphals: Der Wellenreiter. Roman. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2018. 352 Seiten, 22 €.

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