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Christa Wolf, 18.3.1929 bis 1.12.2011. Der Vorgängerband zu "2001-201.1 Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert" über die Zeit von 1960 bis 2000 ist bereits 2003 erschienen.

© dpa

Bücherfrühling: Alles ist gesagt

Tief berührend in ihrer Ungeschütztheit und Todeserwartung: Über 50 Jahre lang hat Christa Wolf am 27. September eines jeden Jahres ihren Tag protokolliert. Nun erscheinen ihre letzten Aufzeichnungen über den „Tag im Jahr im neuen Jahrhundert“.

Zum Schluss nur noch handschriftliche Notizen. „Frühstück. Ein Eierbrot. Nach Erhöhung der Schmerzpflaster scheint der Appetit wieder zu schwinden. Ganz wenig Erbsen gegessen.“ So verlischt ein Leben, das in seinen letzten Jahren von Krankheit, Operationen, Krankenhausaufenthalten, Schmerzen und Behinderungen geprägt wurde.

Über mehr als ein halbes Jahrhundert, von 1960 bis in ihr Todesjahr 2011, hat Christa Wolf an jedem 27. September ihren Tag protokolliert. Aus der Perspektive des Alltags und des subjektiven Erlebens entstand eine in der Literaturgeschichte wohl einzigartige Langzeitbeobachtung als punktuelle Geschichtsschreibung und experimentelle Biografie. Begonnen hatte es mit einem Aufruf der Moskauer Zeitung „Iswestija“ an die Schriftsteller der Welt, ihren 27. September 1960 zu schildern. Dass Wolf dann Jahr für Jahr damit für sich selbst weitermachte, war ihr eigener Entschluss. Diese Tagesmitschriften, die inselhaft im jeweiligen Jahr stehen, wurden ihr zu einer mal lästigen, mal erfreulichen Pflicht zu einem Fixpunkt im Strom der Zeit.

Die Hartnäckigkeit, mit der sie dabei blieb, hatte damit zu tun, dass das Ritual so gut in ihr Literaturkonzept passte. Radikale Subjektivität war einst ihre revolutionäre Neuerung in einer eher aufs Kollektiv gestimmten und auf ideologische Wahrheiten ausgerichteten DDR-Literatur. Das Schreiben als erkennbares Ich und aus dem familiären Alltag heraus führte zu Erzählungen wie „Juninachmittag“ und später zu „Störfall“ oder "Sommerstück", in denen die besondere literarische Stimme Christa Wolfs so unverkennbar ist.

Man könnte aus jedem Tag eine Erzählung machen, hat sie einmal gesagt. Ihr 27. September bietet dazu Jahr für Jahr die Probe aufs Exempel, auch wenn diese Mitschriften nicht „Erzählung“ sein sollen und können. Ebenso wenig sind sie ein wirkliches Tagebuch, das Christa Wolf daneben immer führte, weil der „Tag im Jahr“ ja jeweils schon zum Aufschreiben hin erlebt wurde, also mit einem anderen, zeugenhafteren Bewusstsein bestritten worden ist. In der Summe ergeben diese Tage einen Längsschnitt durch das Leben. Sie gehen leitmotivisch der Frage nach, was das überhaupt für ein Stoff ist: Leben. Ist Leben etwas, das sich aus Einzelteilen zusammenfügen lässt? Und was bleibt davon?

Der erste Band von 1960 bis 2000 erschien 2003. Nun kommt posthum ein Band mit den Jahren 2001 bis 2011 dazu, Jahre, die von Krankheiten, depressiven Stimmungen, Müdigkeit, zunehmender Schwäche und Vergesslichkeit und der Auseinandersetzung mit dem Tod geprägt sind. Der Wechsel zu Suhrkamp spielt darin eine Rolle, weil Christa Wolf die Vertragsunterschrift wohl nicht ganz zufällig auf den 27. 9. legte, und weil Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz an einem 27. 9. anrief.

„Sie will also in den Text“, notierte Wolf. Der Verlagswechsel zieht sich über mehrere Jahre hin, alles dauert länger im Alter. Auch der 2006 beschlossene Wechsel zum Stromanbieter „Lichtblick“ wird erst im Jahr darauf vollzogen, als wäre der 27. September auch ein Tag, an dem Bilanz gezogen und Aufgeschobenes endlich erledigt wird. Das Alter ist auch ein Prozess der Entschleunigung. Christa Wolf hat es gefürchtet, so wie ihren 80. Geburtstag als die Schwelle vom Alter zur Todesnähe. „Meine Zeit ist vorbei“ notierte sie da. „Alles ist gesagt.“

Jedes Jahr einen Tag aufzeichnen. Das Buch versammelt die letzten Protokolle von Christa Wolfs 27.September-Projekt.
Jedes Jahr einen Tag aufzeichnen. Das Buch versammelt die letzten Protokolle von Christa Wolfs 27.September-Projekt.

© Suhrkamp

Der „Tag im Jahr“ war für sie ein festes Ritual, das, wie der Alltag generell, dem Leben eine Struktur gab. Am Alltäglichen mit seinen oft quälenden Pflichten und Abläufen hielt sie sich fest, wenn Fernsehen und Zeitungen von den fortgesetzten Katastrophen draußen in der Welt berichteten. Andererseits drohte der Alltag das Leben ins Vergessen zu reißen und auszulöschen, und so kämpfte sie mit dem Schreiben an gegen „Vergänglichkeit und Vergeblichkeit als Zwillingsschwestern“. Dahinter leuchtet am Horizont aber immer die Zeitgeschichte. 2001 beispielsweise liegt der Anschlag auf das World Trade Center erst gut 14 Tage zurück.

Doch die Welt mit ihrer Geschichtsdramatik entfernt sich immer weiter in diesem letzten Jahrzehnt, und immer schwerer wird es, das, was da aus dem Fernseher dringt, noch mit der nötigen politischen Dringlichkeit zu betrachten. Trotzdem hörte Christa Wolf bis zuletzt nicht damit auf, sich dafür zu interessieren. So endet die letzte, handschriftliche Notiz, zwei Monate vor ihrem Tod, mit einer „BZ“-Überschrift: „Es wird laut am Müggelsee“. Ihren Schmerz, ihre Krankheiten hat sie immer öffentlich gemacht, weil es ein Leiden an der Gesellschaft gewesen ist. Daraus entstand ihre Literatur, so auch noch 2002 die Erzählung „Leibhaftig“. Doch nie kam man ihr so nahe wie in diesen Tagesmitschriften des letzten Jahrzehnts. Nun hat das Leiden keine politische Dimension mehr, sondern ist nur noch zunehmende Schwäche zum Tode hin. Sterben ist kein Gleichnis mehr, sondern der Schlusspunkt.

Der Tod ist stets gegenwärtig in den Aufzeichnungen dieser Jahre und mit ihm die Frage: „Wozu“, die alles Gelebte und Geschriebene infrage stellt. Trotz Herz- und Knieoperationen und kaum noch gehfähig, arbeitete Wolf diszipliniert an ihrem letzten großen Roman „Stadt der Engel“. Wie ein Gebirge türmte sich die Arbeit vor ihr auf, und es ist wohl ein Wunder, dass dieses Buch überhaupt fertig geworden ist. Auch davon handelt der „Tag im Jahr im neuen Jahrhundert“, ein in seiner Ungeschütztheit und Todeserwartung tief berührendes Buch.

Ihr Schreiben kreiste um das „Ungesagte“, um eine neue Sprache, um den „blinden Fleck“, wie sie das nannte. Diese Grenze ihrer subjektiven Schreibweise, dass das Ich als beobachtende Instanz sich selbst niemals ganz in den Blick bekommen kann, war wohl nicht zu überschreiten, und vielleicht war es auch nur eine Methode, um es dann doch von Buch zu Buch von Neuem probieren zu können. Am Ende hatte sie wohl alles gesagt und nicht nur nichts mehr zu sagen. „Ich wäre nicht untröstlich, wenn ich nicht mehr schreiben würde“, schrieb sie am 27. September 2010. Da hatte sie „Stadt der Engel“ schon hinter sich und konnte endlich zufrieden und gelassen auf das Werk blicken, das sie hinterlassen würde.

Christa Wolf: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 162 Seiten, 17,95 €.

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