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An der Grenze von Dichtung und Wahrheit: Tage der Autofiktion
Ob Annie Ernaux oder Arno Geiger, ob Emine Sevgi Özdamar oder Bret Easton Ellis: Der Trend in der Literatur geht zur Erforschung des Selbst.

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Als die Schwedische Akademie Anfang Dezember in Stockholm Annie Ernaux mit dem Literaturnobelpreis auszeichnete, war diese Wahl nicht zuletzt der Ehrbeweis für ein gesamtes literarisches Genre: die Autofiktion, die Mischung aus autobiografischem und fiktivem Schreiben. Seit Jahren ist die Autofiktion ein Trend in der Literatur.
Mit Glavinic ging es los...
Ultimativ wurde dieser Trend womöglich mit dem Erfolg der Bücher von Karl Ove Knausgård (aber war da nicht vorher Thomas Glavinic mit „Das bin doch ich“? Und war da nicht Emine Sevgi Özdamar mit..., nein, lassen wir das). Als Genre gibt es die Autofiktion, ohne dass sie so geheißen hätte, natürlich viel, viel länger. Man denke an Goethes Beschreibung seiner jungen Jahre, „Dichtung und Wahrheit“. Allein dieser Titel könnte treffender nicht sein.
...oder doch Goethe?
Annie Ernaux war nicht die einzige Genrevertreterin, die vergangenes Jahr zu Literaturpreisehren kam: Emine Sevgi Özdamar hat nicht zuletzt wegen ihres jüngsten Lebensromans „Ein von Schatten umgrenzter Raum“ den Büchner-Preis gewonnen; Jan Faktor bekam für seinem autofiktionalen „Trottelroman“ den Wilhelm-Raabe-Preis; und auch Kim de l`Horizons mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneter Roman „Blutbuch“ ist autobiografisch grundiert, eine autofiktionale Geschichte.
So geht es im neuen Jahr weiter: Von Arno Geiger erscheint ein Buch über ein lang von ihm gehütetes Geheimnis, nämlich dass er 25 Jahre sehr, sehr regelmäßig in Papierabfalltonnen gewühlt und nach Brauchbarem gesucht hat; „Das glückliche Geheimnis“ ist Geigers Autobiografie.
Auch von Bret Easton Ellis, der sich zu einem Autofiktionsmeister entwickelt hat, gibt es einen neuen Roman, „The Shards“. Ellis erzählt darin von sich als 17-jährigem, wie er 1981 sein Debüt „Unter Null“ schrieb und ein Serienmörder in L. A. sein Unwesen trieb. Oder Sylvie Schenk. Die deutsch-französische Schriftstellerin hat mit „Maman“ ein wunderbares Buch über ihre Mutter geschrieben, das locker an Annie Ernaux’ Mutterbuch heranreicht, und so geht es munter weiter.
Wo immer aber die Wahrheit aufhört, die Erinnerung nachlässt und die Fiktion anfängt, ja, wieviel Dichtung in ausgewiesenen Autobiografien steckt, das muss am Ende der Leser, die Leserin selbst entscheiden. Nur: Eine Wahl gibt es im Grunde nicht.
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