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Dosentruppe. David Kammerer, Matze Jung und Martin Gegenheimer (v.l.) vor einem um 1993 entstandenen Wandbild des Künstlers Mode2 in Kreuzberg.

© Paul Zinken

Graffiti in Berlin: Angewandte Architekturkritik

Mit Filzstift oder Feuerlöscher - Graffiti wird verfolgt, aber oft nicht verstanden. Drei Berliner Sprüher wollen das ändern: mit Workshops und Stadtspaziergängen durch Kreuzberg.

Schmiererei! Vandalismus! Sachbeschädigung! Geldstrafen, im Extremfall sogar Gefängnis drohen Sprühern, die ihre Graffiti ohne Erlaubnis auf öffentlichen oder privaten Wänden hinterlassen – von Zügen gar nicht zu reden. Seit 1994 gibt es in Berlin die „Gemeinsame Ermittlungsgruppe Graffiti“ von Polizei und Bundespolizei. Im selben Jahr wurde der Verein „Nofitti“ gegründet, der der „optischen Verwahrlosung der Stadt Einhalt“ gebieten will. „Das Erscheinungsbild Berlins wäre im Auge von Touristen sonst noch fataler“, fürchten die Graffiti-Gegner.

Andererseits ist es um „Nofitti“ in den letzten fünf Jahren ziemlich ruhig geworden. Zu Recht, finden Matze Jung, Martin Gegenbauer und David Kammerer, die am Archiv der Jugendkulturen in Kreuzberg die Graffiti-Sparte betreuen. Die drei Berliner, selbst seit Jahren Sprüher, wollen für einen „differenzierten Blick“ auf die „Aerosol Art“ werben. „Wir wollen die ganze Bandbreite darstellen, nicht nur die negativen Aspekte.“ Reißerische Berichterstattung in den Boulevardmedien heize immer wieder die Stimmung auf. Aber: „Je mehr die Leute über Graffiti wissen, desto offener werden sie.“

Ihre Archivsparte umfasst wissenschaftliche Literatur, Zeitungsausschnitte seit Mitte der 80er Jahre sowie eine Vielzahl Fanzines – „eine Recherchegrundlage für Studenten und Journalisten“, wie die drei sagen. Ihr Blog unter http://graffitiarchiv.wordpress.com soll nicht nur Visitenkarte sein und Veranstaltungen ankündigen, sondern einmal auch den Archivbestand präsentieren.

In Vorträgen informieren Gegenbauer und Jung, beide 31, über die Sprühkunst. Graffiti kam in den 80er Jahren in New York auf, wurde mit der Hip-Hop-Kultur groß – und hat sich heute extrem ausdifferenziert. In Berlin gibt es mehrere tausend sogenannte „Writers“, die durch das möglichst kunstvolle Schreiben ihres Namens im Stadtraum um Anerkennung kämpfen. Auf rund 200 Personen schätzt die Polizei den harten Kern. Aber: „Es gibt in Berlin nicht eine Sprüher-Szene“, sagt Kammerer, 44, der 1983 seine erste Sprühdose in der Hand hatte. Die Motivationen seien so unterschiedlich wie die Akteure: Kunststudenten und Problemkids, Adrenalinjunkies und Autonome.

Mit Workshops für Schüler, Interessierte und sogar Polizisten arbeiten die drei Graffiti-Aktivisten gegen die pauschale Verteufelung der Wandmalkunst an. Dabei haben sie sogar ein knallhart wirtschaftliches Argument auf ihrer Seite. Es scheint nicht, als würden die bunten Berliner Wände Touristen abschrecken. Im Gegenteil: Graffiti erzeugt – zusammen mit anderer Street Art wie Schablonenbildern und Cut-outs, und zusammen mit Clubs, Cafés und Galerien – erst den subkulturellen Charme, der die Stadt beim internationalen Publikum beliebt macht. Zur Street-Art-Messe „Stroke“ kamen im Oktober 2010 rund 8000 Besucher. Die bunten Schriftzüge sind für die Kreativmetropole Berlin längst ein Standortfaktor.

Die Politik zeigt hierfür aber nur bedingt Verständnis. Zwar wird ein – einstmals – wilder Kunstort wie die East Side Gallery offiziell als Sehenswürdigkeit vermarktet. Zugleich aber gebe es heute kaum öffentliche Wände mehr, an denen legal gesprüht werden kann, kritisieren Kammerer, Gegenbauer und Jung. Nur von privat, von Kirchengemeinden oder Schulen gebe es noch Angebote. Das sei schade, denn: Je illegaler Graffiti sei, je größer der Zeitdruck beim Malen, desto weniger ausgefeilt würden die Bilder.

„Der Kampf gegen Graffiti ist auch immer der Kampf für den Kommerz“, sagt Matze Jung. Graffiti und andere Street Art seien hierbei „alternative Ausdrucksweisen im öffentlichen Raum“. So gesehen sei Graffiti immer auch als Widerstand gegen die Privatisierung, die Kontrolle und Kommerzialisierung der Stadt lesbar. Stichwort: Gentrifizierung. „Reclaim your city“ – holt euch eure Stadt zurück – ist der in diesem Zusammenhang oft gebrauchte Slogan.

Er ist auf einigen Kreuzberger Wänden zu lesen, auf den Graffiti-Spaziergängen, die die drei regelmäßig anbieten, weisen sie auf den Spruch hin. Wohlgemerkt: Die drei Aerosol-Advokaten wollen niemanden zu Straftaten anstiften. „Wir warnen davor, sinnlos Vandalismus zu betreiben.“ Bei ihren Schüler-Workshops weisen sie immer auf die rechtlichen Konsequenzen illegalen Sprühens hin.

Trotzdem kann es nur nützlich sein, ein so verbreitetes Kulturphänomen genauer zu verstehen. Auch Graffiti-Skeptikern dürfte sich auf den knapp zweistündigen Führungen durch Kreuzberg eine erstaunlich vielfältige Welt eröffnen: Kammerer, Gegenbauer und Jung stellen legale und illegale Graffiti-Wände vor, entschlüsseln Buchstabenkürzel und erklären Techniken und Formsprache: Vom schnellen Tag mit dem Filzstift zur wandgroßen Signatur mit dem farbgefüllten Feuerlöscher, vom Aufkleber zum an die Wand gekleisterten Plakat, von rätselhaften Runen zu aufwendigen Riesenbildern.

Das wilde Malen sei manchmal auch eine Art angewandter Architekturkritik. „Graffiti richtet sich gegen die grauen Wände in den Köpfen“, sagt David Kammerer. „Graffiti sagt: Achtung, hier leben Menschen! Hier braucht es Gestaltung! Sonst ist es seelenlos.“

Die nächsten Graffiti-Spaziergänge: Samstag, 14. Mai, und Samstag, 11. Juni, jeweils ab 11 Uhr. Anmeldung per E-Mail unter graffiti@jugendkulturen.de

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