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Sprachkünstlerin. Melinda Nadj Abonji (49) lebt in Zürich.

©  imago/Sven Simon

Melinda Nadj Abonjis neuer Roman: Auf der Brücke von Vukovar

Aufschrei gegen den Jugoslawien-Krieg: Melinda Nadj Abonjis Roman „Schildkrötensoldat“ ist ein traurigschönes Stück Sprachkunst.

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Seit mindestens 220 Millionen Jahren gibt es Schildkröten auf dieser Welt. Sie sind langsam, sie wirken träge, und innen sind sie weich. Ihr harter Panzer aber schützt sie weitgehend vor Feinden, und deshalb können sie alt werden. Sehr alt. Bis zu 200 Jahre, auf jeden Fall bis zu 160, heißt es. Die kleinen, die man sich als Haustiere halten kann, werden bei guter Pflege immerhin 30 Jahre alt. Oder sogar 40. Dass Schildkröten auch als Soldaten missbraucht werden können, hat man allerdings noch nie gehört.

Zoltán Kertész, von dessen Schicksal Melinda Nadj Abonjis jüngster Roman berichtet, war empfindsam, zart und langsam. Einen Panzer hatte er nicht. Dem Militär konnte er nicht entkommen. Zoltán wurde keine 22 Jahre alt – „ein Kind unserer Zeit“, wie es im Text heißt, unter Hinweis auf Ödön von Horváths letzten Roman, der, 1937 abgeschlossen, mit den Sätzen beginnt: „Ich bin Soldat. Und ich bin gerne Soldat.“

Eine Geschichte aus zwei Perspektiven

Seit dem Roman „Tauben fliegen auf“ der 2010 sowohl mit dem Deutschen als auch mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde, ist die 1968 in der Vojvodina geborene Zürcher Schriftstellerin und Musikerin Melinda Nadj Abonji eine feste Größe im deutschsprachigen Literaturbetrieb. Ihr jüngstes Buch, ein bitterer und ergreifender Aufschrei gegen Krieg und Gewalt, erzählt die Geschichte eines für alles Militärische vollkommen ungeeigneten, Pflanzen, Tiere und Kreuzworträtsel liebenden sanftmütigen Tagträumers: „Wem gehören wir? Dem Staat? Gott? Den Eltern? Der Luft? Uns selbst? Dem Tod?“ Das ist die zentrale Frage, die dieser hochpoetische und hochreflektierte Roman aufwirft.

Zoltán, genannt Zoli, war der Cousin der Ich-Erzählerin Hanna, die sich, nachdem sie von seinem Ende erfahren hat, von der einigermaßen sicheren Schweiz aus auf den Weg ins nördliche Serbien macht: „Der Schmerz ließ sich nicht teilen, die Fassungslosigkeit darüber, dass ich nichts hatte tun können. Gar nichts… Dastehen, vor dem Grab eines Menschen, der jung gestorben ist, vor seiner Zeit, und damit sagt man, dass es eine andere Zeit hätte geben können.“ Warum es dazu nicht kommen konnte, erzählt Zoltán selbst, und Hanna erzählt es anders – jedes Romankapitel erhält damit eine doppelte Perspektive, und genau das macht den besonderen Reiz dieses Textes aus. Bereits im alles andere als liebevollen Elternhaus fing das Sterben dieses sanftmütigen Jünglings an.

Zoltán stirbt und sein Land zerfällt

Als Neunjähriger war Zoltán „wie ein Mehlsack“ von Vaters Motorrad gefallen, und exakt an diesem Tag sei er „blöd geworden wie eine Kanone“, wie ihm sein versoffener Erzeuger immer wieder vorhält, „ein junger Kerl, der zusammenzuckt, wenn es blitzt und donnert, na, wo gibt’s denn so was?“ Auch Zoltáns Mutter schreit nur: „Sei ein Mann, ein ganzer Kerl!“ Genau das ist ihr Sohn nicht – und möchte es auch nicht sein. Die Kette der Erniedrigungen und Demütigungen reißt nicht ab, nicht in der Schul- und nicht in der Lehrzeit. Bei der Armee geht es verschärft weiter. „In Zrenjanin war ich Soldat, sie haben mich geholt, sie haben mich mit Stiefelfüßen geholt, nachts, ich habe die Nacht aufgeweckt mit meinen Schreien, mit meiner Katzenmusik, dem Gejammer eines unreifen Mannes…“. Das Militär braucht funktionierende junge Männer, deren Individualität ausgelöscht werden muss.

Man schreibt das Jahr 1991, der Angriff der jugoslawischen Volksarmee auf die Donaustadt Vukovar steht bevor, und Zoltáns Kamerad Jenö sagt: „… gegenseitiges Abmurksen, das ist der Schlachtplan!“ Befehle, Schikanen, Drohungen, Unterwerfung und Angst bestimmen den Soldatenalltag. Von „Fahnenfurcht“ gebeutelt, bricht Zoli bei einem Gewaltmarsch zusammen. Ausgerechnet „auf einer Brücke“. Brücken verbinden? Sind Friedenssymbole? Ach was! Arrest und Prügel folgen, und der „Medikamenten-Cocktail“ im Militärkrankenhaus gibt dem armen Kerl den Rest. Zoltán stirbt, und sein Land zerfällt: „Jugoslawien, das Land, in dem du geboren und aufgewachsen bist, existiert nicht mehr.“

Wie es dazu kam und wie viel Leid und Unglück damit verbunden war, das führt „Schildkrötensoldat“, dieses traurigschönen Stück Sprachkunst, berührend vor Augen – auch wenn Melinda Nadj Abonji in einigen wenigen Passagen nicht ganz ohne Jugoslawien-Verklärung auskommt.

Melinda Nadj Abonji: Schildkrötensoldat. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 173 Seiten, 20 €.

Klaus Hübner

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