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Wahrheitssuchender. Dag Solstad.

© Tom Sandberg

Dag Solstad in „16. 7. 41“: Auf Selbstsuche zwischen Kreuzberg und Sandefjord

Der Norweger Dag Solstad erzählt in seinem Roman-Memoir „16. 7. 41“ vom Leben an zwei unterschiedlichen Orten. Ihm ist ein großes Leseerlebnis gelungen.

Mit zwei Anzügen trifft der norwegische Schriftsteller Dag Solstad im Jahr 2000 in Berlin ein, zwei weitere kauft er sich im Kaufhaus des Westens: einen robusten, alltagstauglichen und einen hauchdünnen italienischen, der ihm beim vorsichtigen Anziehen das Gefühl vermittelt, er schlüpfe „in des Kaisers neue Kleider“.

Überwiegend in diesen vier textilen Hüllen erkundet Solstad als Langzeittourist Berlin und reist von dort aus nach Norwegen, um einen Vortrag über seine Romankunst zu halten und anschließend in seinem Geburtsort Sandefjord südlich von Oslo an einem Klassentreffen teilzunehmen.

So weit der Plan eines Mannes, der von sich sagt, sein ganzes Leben bestehe aus Schrift. Der „Autor Dag Solstad“ führt als Ich-Erzähler durch einen Roman, dessen Titel „16.7.41“ nicht knapper sein könnte und des Verfassers Leidenschaft für Zahlen bekundet: Der 16. Juli 1941 ist Dag Solstads Geburtstag.

Auf dem an sich langweiligen Flug nach Deutschland erscheint dem nach eigenem Bekunden agnostischen Passagier auf einem imposanten Wolkenturm sein Vater Ole Modal Solstad. Der erfolglose Erfinder eines Spielzeugfallschirms und einer astronomischen „Ewigkeitsmaschine“ nach dem Vorbild des Perpetuum mobile erlag als „geschlagener Mann“ früh einer Herzkrankheit.

Sein jüngerer Sohn Dag war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal elf. Im Rückblick erkennt er: „Ich muss es einfach zugeben. Seit Vaters Tod war ich nicht mehr ich selbst. Ich war der Autor Dag Solstad. Ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen, und die habe ich noch nicht vollendet. Ich denke nur an meine Zukunft.“

Solstadt erlebt so manches vergnügliches Missverständnis

Die Vater-Epiphanie während des Flugs grundiert den mäandernden Text und weist ihm schließlich doch noch eine Richtung. Der Roman, der eher ein Memoir darstellt, besteht aus zwei Hälften: einem recht langatmigen, zum Teil banalen Berliner Teil und einem für Solstad-Werke wie „Scham und Würde“ oder „Elfter Roman, achtzehntes Buch“ typischen, nämlich sanft absurden und sehr berührenden Teil in Norwegen.

Nach Deutschland kommt der Schriftsteller im Sommer 2000 auf Wunsch seiner Frau mit. Therese Bjørneboe, im Buch als „meine Lebensgefährtin“ tituliert, arbeitet als Dramaturgin, Theaterkritikerin und Herausgeberin der renommierten Zeitschrift „Norsk Shakespeare- og teatertidsskrift“. Sie überredete ihren Mann dazu, eine Zeit lang nach Kreuzberg zu ziehen, unweit des Landwehrkanals.

[Dag Solstad: 16. 7. 41. Roman. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. Dörlemann Verlag, Zürich 2021. 287 Seiten, 22 €.]

Daher versteht Dag Solstad Deutsch, spricht es aber bis heute nicht. Isoliert in seiner „sprachlichen Selbstgenügsamkeit“ erlebt der ausdauernde Spaziergänger, Caféhaus-Besucher und literarische Privatier so manches vergnügliche Missverständnis.

Berlin hat einen Makel, meint Solstad

Vor allem aber bewahrt ihn seine fehlende Kenntnis der Landessprache davor, seine kauzigen ideologischen Behauptungen mit der Wirklichkeit abgleichen zu müssen. Die langen Schürzen der Kellner im „Ganymed“ unweit des Berliner Ensembles erinnern Solstad an Berlins Ausrichtung nach Zentraleuropa, die ihm rundum sympathisch ist.

Während er sich über den „unzeitgemäßen“ Kurfürstendamm als kapitalistische Sehnsuchtsmeile mokiert, hat es Ost-Berlin dem einstigen Maoisten und DDR-Sympathisanten besonders angetan, sodass er sich zu frivolen Behauptungen versteigt: „Erneut nahm ich die sowjetische Fußgängerunterführung am Alexanderplatz, um mich in das zutiefst humanistische Dreieck zu stürzen, das von den Straßen Friedrichstraße-Torstraße-Karl-Liebknecht-Straße/Unter den Linden begrenzt wurde. Die meisten, die sich innerhalb dieses Dreiecks bewegen, sind Theatergänger. Es sind die Unterdrückten der DDR. Die das Wesentliche begriffen haben. Sie spüren die Trennung. Dass es zu menschlichen Erkenntnissen verhilft, im Kommunismus unterdrückt gewesen zu sein, die von keiner westlichen Freiheit ersetzt werden können.“

Berlin habe einen Makel, behauptet der norwegische Besucher, nämlich seine Bevölkerung, die untypisch für eine Hauptstadt sei: „Die Stadt ist geprägt von den Normalen, aber die Normalen sind auf die falsche Weise normal. Das merkt man an allem. Sie sehen z. B. viel zu wenig fern. Welche Mentalität entwickeln Menschen, die Fernsehen als Lebensstil verweigern?“

Eine provokante Abkehr von der Welt

Solche Fragen stellt sich der „privilegierte freie Literat“ unentwegt, bis ihn ein Vortrag in der Heimat aus seinen Gedanken reißt. Mit einer linkischen Verbeugung bedankt er sich für den Applaus, so wie er glaubt, dass es von ihm in der Autorenrolle erwartet werde.

Dag Solstads Romane, deren Kenntnis deutschsprachige Leserinnen und Leser seit vielen Jahren Ina Kronenbergers Übersetzungen für den Dörlemann Verlag verdanken, handeln im Kern von der radikalen Suche nach Wahrheit, die Figuren wie der Stadtkämmerer Bjørn Hansen in „Elfter Roman, achtzehntes Buch“ unternehmen. Aus Lebensüberdruss simuliert Hansen einen Unfall, der ihn als Gesunden in den Rollstuhl zwingt.

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Damit verbunden ist häufig eine provokante Abkehr von der Welt, eingeleitet durch die Missachtung von Konventionen. Das vollzieht sich jedoch keineswegs als lauter Protest, sondern in aller Stille. Die jeweilige Hauptperson verpasst oder verwechselt etwas oder versteht etwas falsch.

So auch in dem scheinbar autobiografischen Roman „16. 7. 41“: Der Ich-Erzähler Dag Solstad versäumt das Klassentreffen in Sandefjord zum vierzigjährigen Abiturjubiläum, da er zwar reichlich Whiskey, aber nicht die Adresse des Lokals dabeihat.

Der Roman ist 2002 im Original erschienen

Angeheitert stolpert er durch die Sommernacht, bis er vor seinem bescheidenen Elternhaus steht. Durch das erleuchtete Fenster sieht er seinen Klassenkameraden beim Feiern zu, traut sich aber nicht hinein.

Und mitten in dieser eigentümlichen Szene wird der Ich-Erzähler erneut von der schmachvollen Erinnerung an seinen Vater übermannt: die Demütigung des genialischen Erfinders, der kein Patent verkaufen kann, sodass die Familie vom kümmerlichen Verkäuferinnengehalt der Mutter abhängt.

Der Roman „16. 7. 41“ ist bereits 2002 im norwegischen Original erschienen. Wie Dag Solstad darin „Scham und Würde“ des Vaters mit seiner eigenen Genese als Schriftsteller verknüpft, ist ein großes Leseerlebnis mit einer nicht unbedingt zwingenden Berliner Garnitur.

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